Hi.
Was ist Wahrheit? Gibt es eine, viele oder gar keine? Gibt es eine oder mehrere Ebenen der Wahrheit? Ich möchte den Wahrheitsbegriff hier ein bißchen auseinanderfalten - es gibt ja dazu viele Überlegungen, und einige davon will ich kurz darstellen, inclusive eigener Konstruktionen im Teil über die Subjektstufen.
Meines Wissens gibt es in der neueren westlichen Philosophie drei Formen von Wahrheitstheorien: 1) Wahrheit ist die Korrespondenz von Aussage und Sachverhalt, 2) Wahrheit ist die Kohärenz aller Aussagen eines wissenschaftlichen Satzsystems, 3) Wahrheit ist das, worauf sich die Mitglieder einer Kommunikationsgemeinschaft per zwanglosem Konsens verständigen.
Nr.1, die Korrespondenztheorie, gilt heute als überholt. Vieles spricht dagegen, daß Aussagen und Sachverhalte in Entsprechung stehen können. Ein Grund dafür ist die Unschärfe bzw. der unendliche Facettenreichtum des Sprachlichen. Wird eine Aussage syntaktisch verändert und/oder ein Wort durch ein Synonym ersetzt, ändert sich ihre Bedeutung und damit ihre Beziehung zum Sachverhalt. Zudem begrenzen die sprachlich definierten Rahmenbedingungen, unter denen Aussagen gelten, ihren Absolutheitsanspruch.
Last not least steckt die Korrespondenz-Wahrheit in einem Zirkel. Ob eine Aussage p wahr ist, kann wieder nur sprachlich ausgesagt werden. Dem liegt eine zusätzliche Aussage über den Sachverhalt zugrunde, mit dem die Aussage verglichen wird. Es korrespondieren also nur zwei Aussagen. Die Außenwelt bleibt ein Kantisches Ding-an-sich, das dem ausgeworfenen Sprachnetz entschlüpft…
Nr.2 will ich jetzt auslassen, da sie zu speziell ist.
Nr.3, die Konsenstheorie, wurde vor allem durch Jürgen Habermas bekannt, der auf Charles Peirce aufbaut. Aussagen unterliegen Geltungsansprüchen, die Teil einer in das Sprachliche eingebauten transzendentalen Struktur sind (Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Normativität). Jede Aussage (Proposition) wird von den Mitgliedern einer Kommunikationsgemeinschaft auf den Prüfstand dieser drei Geltungsansprüche gestellt. Über die Geltung kann dann beim Aufeinanderprallen von Argumenten im Diskurs befunden werden - ggfs. gelangt man zu einem Konsens.
Für Habermas gibt es außerhalb des Konsensrahmens keine Wahrheiten. Propositionale Wahrheit ist notwendig vorläufig, also falsifizierbar. Was dieser Wahrheitsform ihren Wert verleiht, ist der pragmatische Rahmen, innerhalb dessen sie Geltung beanspruchen kann. Denn Konsens erzielt eine Aussage nur kraft ihres pragmatischen Potentials.
Vor 1800 Jahren unterschied der indische Buddhist Nagarjuna zwei Ebenen der Wahrheit: die relative und die absolute. Mit der Ebene relativer Wahrheit meinte er jene, auf die wir uns beziehen, wenn wir propositionale Aussagen machen. Die Ebene absoluter Wahrheit entspricht der Shunyata bzw. dem Nirvana. Hier wird das Sein jenseits der Subjekt-Objekt-Spaltung erfahren. Das Subjekt hat, Hegelisch gesprochen, zu sich selbst, zu seiner Wahrheit gefunden.
Im Unterschied zu Habermas will ich hier nicht mit dem Papst Tee schlürfen (oder so), sondern Nagarjunas Modell auf eine etwas hegelianische Weise mit dem Ansatz von Habermas kombinieren, gewürzt mit einer Prise Lacan.
Zunächst zum Ich, der ersten der drei Stufen des Subjekts:
Das Subjekt der propositionalen Aussage ist das bewußte Subjekt: das Alltags-Ich, das naiv von seinem Selbstsein überzeugt ist. Es entspricht dem empirischen Ich Kants, auch dem imaginären Ich Lacans (moi), das in einer narzißtischen Spiegelwelt lebt. Es ist, nach Lacan, das Ich, das nur denkt, daß es denkt.
Das unbewußte Subjekt ist die zweite Subjektstufe. Kant deutet es mit dem transzendentalen Subjekt an, insofern dieses dem Ich die Strukturen des Erkennens diktiert. Lacan nennt es das symbolisch strukturierte Subjekt des Unbewußten, das eigentlich denkende Subjekt, eine Struktur, in der das Begehren zirkuliert und die sich durch das Sprachliche sowie durch die fundamentalen Gesetze der Intersubjektität formt und konstituiert (hier spielt der Ödipuskomplex eine zentrale Rolle). Dieses Subjekt entspricht auch, unter einigen Aspekten, dem Habermas´schen Subjekt, das durch die transzendentalen Strukturen von drei pragmatischen Erkenntnisinteressen konstituiert wird (Habermas´ Theorie aus den 60ern).
Die zweite Subjektstufe ist also eine wesentlich intersubjektive, soziale: sie orientiert sich am Wert des Handelns für die Gemeinschaft. Ihr Ort ist das Unbewußte, auch wenn das Ich darauf reflektieren kann. Lacan nennt sie auch die Symbolische Ordnung.
Für die beiden ersten Stufen gilt der propositionale, relative, auf Konsens und vernünftigen Diskurs basierende Wahrheitsbegriff. Der Motor, der dahinter steckt, ist das unbewußte Subjekt. Das Ich agiert hier nur als Galionsfigur. Die philosophischen Relativisten beziehen sich auf diese Ebene, wenn sie Wahrheit als rein kontextuell relativieren.
Eine dritte Subjektstufe könnte die des Absoluten sein: das Ich des Absoluten, wie Fichte es ausdrückt, der Hegelsche Weltgeist, der Eine Geist des Zen, das Brahman der Hinduisten, das Nirvana des Buddhismus, die Coincidentia oppositorum des Nikolaus von Kues, die Mensch-Gott-Identität des Meister Eckhart, das grenzenlose Apeiron des Anaximander, jenseits aller Dualitäten. Der Aspekt des transzendentalen Ich Kants, den dieser als neutralen Zeugen bezeichnet, deutet auf diesen absoluten Geist hin.
Insofern hier das Subjekt IN seiner Wahrheit ist - an-sich -, ist diese Stufe die absolute Wahrheit Nagarjunas. Die Wirklichkeit jenseits der relativen Aussagenwahrheit . Weil die Subjekt-Objekt-Spaltung aufgehoben ist, gibt es keine propositionale Wahrheit über Objekte mehr. Es handelt sich hier, so in den Worten des japanischen Philosophen Keji Nishitani, „um einen absolut transzendenten Ort, der sich nicht jenseits von uns, sondern wahrhaft diesseits bei uns auftut, in einem Diesseits, das diesseitiger ist, als wir selbst es sind.“ *
Hat jemand Anregungen oder Einwände gegen eine solche Konstruktion?
Gruß
* Genaue Quellenangabe kann ich nachreichen.