Hallo Horst,
so ganz erschließt sich mir zwar nicht, was die von Dir vorgebrachten Einwände mit unserem Thema zu tun haben - es scheinen mir eher Argumente ad personam als ad rem zu sein. Doch sei’s drum.
Zur Frage der Ebenen:
Zunächst habe ich - wie vielleicht erinnerlich - die Bezeichnung ‚Ebenen‘ für die beiden Arten von Wahrheit nicht als platt ‚falsch‘ bezeichnet, sondern als irreführend. In einem Posting über Reinkarnation, wo das Konzept der ‚zwei Wahrheiten‘ lediglich einen Nebenaspekt darstellt, mag es angehen, von ‚Ebenen‘ zu sprechen, ohne das dahinterstehende Konzept eigens zu vertiefen - das ist ein anderer Kontext. Behandelt man jedoch - wie hier in diesem Thread - direkt das Thema der ‚zwei Wahrheiten‘ (und zwar speziell bei Nagarjuna), ist mE der Verweis auf eine potentielle Missverständlichkeit des Begriffs ‚Ebenen‘ angebracht.
Sodann habe ich in dem erwähnten Posting einen Abschnitt des Mahayana Shraddotpada Shastra zitiert und kommentiert. Diese (mit ziemlicher Sicherheit fälschlich) Ashvagosha zugeschriebene Abhandlung ist nicht nur zeitlich, sondern auch inhaltlich vom frühen Madhyamaka (sprich: Nagarjuna) recht weit entfernt. Also auch hier ein Ignoriern des Kontextes Deinerseits, diesmal des geistesgeschichtlichen. Es ist ein Text der Yogacara-Tradition, in der auch das Konzept der ‚zwei Wahrheiten‘ etwas anders verstanden wird als bei den Madhyamika - immerhin liegen zwischen frühem Madhyamaka und Yogacara ca. 3 Jahrhunderte geistesgeschichtlicher Entwicklung. Noch einmal anders werden die ‚zwei Wahrheiten‘ übrigens gemäß der Upaya-Doktrin des Saddharma Pundarika Sutra aufgefasst, die bezüglich der ‚konventionellen Wahrheit‘ einen pluralistischen Standpunkt einnimmt. Es gibt bezüglich der ‚zwei Wahrheiten‘ - auch wenn dieses Konzept auf Nagarjuna zurückgeht - keine allgemein mahayanische Auffassung, was Du hier immer wieder übersiehst, wenn Du mit irgenwelchen mehr oder meist weniger richtigen Aussagen über *das* Mahayana meine Ausführungen zu Nagarjuna widerlegen willst.
Ein wenig ist Dein Einwand damit zu vergleichen, als wenn man die Argumente eines Diskussionspartners in einem Thread über Hegel damit zu entkräften suchte, er habe doch vor einigen Wochen in einem Thread über Kant behauptet, metaphysische Aussagen seien nicht möglich …
Nun zu den ‚nirvanischen dharmas‘. Da wir beide Mitglieder der BG (Budhistische Gemeinschaft der DBU) sind, hatte ich das Glück, Herrn Schumann persönlich zu begegnen. Ich schätze ihn hoch und kann ihm in Bezug auf Kenntnisse der buddhistischen Geistesgeschichte sicher nicht das Wasser reichen, doch muss ich ihm hier widersprechen. Vorausgesetzt, Du hast ihn korrekt zitiert und das Zitat ist nicht sinnentstellend aus dem Zusammenhang gerissen, versteht sich. Ich besitze das zitierte Buch selbst nicht und als Landei ist der Zugriff auf eine gut bestückte Bibliothek für mich stets etwas umständlich, so dass ich direkt zu dem Zitat schlecht Stellung nehmen kann. Ich gehe davon aus, dass es eine simplifizierte Formulierung ist, die - ähnlich wie mein Argumentieren mit ‚Ebenen‘ im Reinkarnationsposting - auf ein sachunkundiges Publikum Rücksicht nimmt, um es nicht zu überfordern. Um Bertrand Rusell zu bemühen: „A book should have either intelligibility or correctness; to combine the two is impossible:“
Zunächst einmal ist es richtig, dass die dharma-Theorie der Sarvastivadin (vor allem durch Vasubandhus Abhidharmakosha bekannt), die einen ‚Katalog‘ von insgesamt 75 dharmas kannte, drei nicht-zusammengesetzte dharmas (asamskrta dharma) lehrte. Die Theravadin wiederum, die einzige noch existierende Schule des sog. Hinayana, lehrte und lehrt einen Katalog von 82 dharmas, von denen ein einziges asamskrta ist - nirvana. Zu den drei asamskrta dharma der Sarvastivadin gehört nun zunächst einmal der Raum (akasha), den die Theravadin als durch sinnliche Wahrnehmung bedingt, mithin als samskrta (zusammengesetzt)verstehen. Die beiden verbleibenden asamskrta dharma bei den Sarvastivadin sind nun in der Tat zwei unterschiedliche Arten (nicht Formen!) von nirvana, genauer: zwei verschiedene dharmas. Diese beiden ‚nirvanischen dharmas‘ (wenn man diesen kuriosen Ausdruck verwenden will, der sich bei den Sarvastivadin nicht findet) sind zum einen das aktiv durch weises Erkennen der vier edlen Wahrheiten (prati-samkhya) erlangte nirvana, zum anderen ein durch passives ‚Innehalten‘ (nirodha) erlangtes nirvana - was bedeutet, dass keine zusammengesetzten dharmas mehr entstehen können. Diese beiden nirvanas korrespondieren dem (auch anderen Schulen bekannten) nicht-fixierten / vortodlichen apratishthita-nirvana und dem nach dem Tod eintretenden ‚fixierten‘ pratishthita-nirvana - ohne dass diese außerhalb der Sarvastivada-Schule als wesensmäßig verschieden aufgefasst worden wären. Eine Gegenposition zu Theravadin und Sarvastivadin (und den Mahisasakas)vertraten die Sautrantika, die lehrten, dass nirvana schlicht die Abwesenheit jeglicher dharmas sei.
Das ist natürlich etwas anderes, als dass man nirvana als zusammengesetzt aus drei (oder zwei) asamskrta dharma erklärt. Letzteres legt das Schumann-Zitat nahe; das kann er aber nach meiner Einschätzung kaum gemeint haben.
Das alles sind längst vergangene scholastische Streitigkeiten, die durch den Untergang der genannten Schulen (mit Ausnahme der Theravadin) weitgehend obsolet geworden sind. Was bleibt also näher besehen von den sog. ‚nirvanischen dharmas‘ übrig? Dass eine - von nach klassischer Zählweise insgesamt 17(!) - Schulen des Hinayana, die überdies seit nahezu einem Jahrtausend aus der Geschichte verschwunden ist, zwei wesensmäßig verschiedene nirvanas lehrte. Eine geistes- und religionsgeschichtliche Kuriosität, sonst nichts …
Freundliche Grüße,
Ralf