Die Begriffe: Volk, Ethnie und Nation
Hi allerseits,
vielleicht etwas spät, aber besser spät als nie:
Der Begriff „Volk“ ist in der heutigen Soziologie kaum mehr gebräuchlich. Man benutzt statt dessen den Begriff „Gesellschaft“, welcher tatsächlich auch das Untersuchungsfeld der Soziologie besser umreisst. Der Begriff „Volk“ wurde eben wegen den Anlehnungen an ältere Konzepte wie z.B. den Rassenbegriff abgelegt. Zudem bezeichnet der Begriff „Volk“ ein zu großes, zu undifferenziertes, unscharfes Feld.
Der Begriff der „Ethnie“ in der Ethnologie ist ein sehr heikles und sehr umkämpftes Thema (deshalb gibt es soviele Definitionen davon wie Ethnologen, die darüber schreiben). Er diente ursprünglich als Substitut für den Begriff „Stamm“, ist also kein Synonym für „Volk“.
Eine (von mir sehr gekürtzte) konstruktivistische Definition des Begriffs Ethnie besagt, daß man dann von einer Ethnie sprechen kann, wenn
a) die Mitglieder sich ihr zuschreiben (Selbstzuschreibung),
b) sie von Anderen (aussenstehenden) als der Gruppe zugehörig empfunden werden (Fremdzuschreibung),
c) die Mitglieder der Ethnie an eine gemeinsame Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft glauben
d) es eine charakteristische Gemeinsamkeit gibt (z.B. Sprache).
Manche fügen dieser Definition noch die Notwendigkeit der Tradierung innerhalb der Gruppe zu (egal ob Wissen / Rituale / Verhaltensweisen / Gene / etc.).
Ein Mensch kann mehreren Ethnien angehören und sich je nach Situation und Gegenüber auch verschieden zu diesen bekennen (Situativität).
Hinter dem Begriff der Nation steht durchaus, wie jemand an dieser Stelle schon bemerkte, ein westliches und modernes Konzept, welches die Vorstellung einer Gemeinschaft mit gemeinsamen Wurzeln und mit dem Rechtsanspruch auf ein Gebiet besagt. Man spricht mit Anderson auch von einer „vorgestellten Gemeinschaft“ (imagined community), da die Nation ein Konstrukt ist, welche sich selbst ihre Symbole, ihre Geschichte und ihre Rechtfertigung schafft, ohne daß deren Mitglieder direkten Kontakt zueinander haben. Die Nation ist somit ein Kind des Industriezeitalters mit den technologischen Möglichkeiten der Massenmedien, sie führt aber ihre Entstehung meist in mythische Vorzeiten zurück. Nationen existieren aufgrund ihrer Abgrenzung von anderen Nationen (von denen sie sich z.B. in ihren Emblemen, Symbolen und des Mythos der Entstehung unterscheiden) und aufgrund ihrer gegenseitigen Anerkennung als Nationen, da sie eine ähnliche Struktur besitzen (z.B. die Benutzung von Flaggen, Wappen als Ausdruck der nationalen Einheit, das Vorhandensein einer staatlichen Bürokratie, von Botschaften und der Fußballnationalmannschaften
.
Israel ist unbestritten eine Nation. Die Menschen, die sich aufgrund ihrer Religion als Juden verstehen sind nach diesen Theorien eine Religionsgemeinschaft (egal ob sie nun gläubig sind oder nicht) und Menschen, die sich z.B. aufgrund ihrer Herkunft, Sprache und Dezendenz als Juden verstehen bilden demnach eine Ethnie (z.B. askenasische Juden). Welche Art der Organisationsform man wählt, um seiner Identität Ausdruck zu verleihen ist in hohem Grade abhängig von der Situation, in der dies geschieht. Daher treffen auch die starren Ausdrücke wie Volk, Stamm, Rasse, die durchweg reine Fremdzuschreibungen sind nicht mehr zu.
Haftungsauschluß: Die obigen Definitionsversuche spiegeln nur einen kleinen Teil der im Diskurs stehenden Auffassungen wieder und sollten keinesfalls als absolute Begriffsbestimmungen angesehen werden.
So und damit habe ich wieder das alte Vorurteil gegenüber Ethnologen bestätigt, die immer alles so kompliziert, vielschichtig und kontextabhängig sehen 
Grüße,
Phil