Hallo,
Sind die Auswahlkriterien dieses Vorgangs bekannt? Dürfte es
nicht eher so gewesen sein, daß man das nahm, was sich in ein
Zeitverständnis der Lehre Jesu einiger führender Personen
fügte? Und das was weniger verständlich war, wegließ. Damit
ging man aber das Risiko ein, nur einen Teil der Lehre Jesu
auszuwählen und trug somit zur Verfälschung der Idee bei, die
Jesus eigentlich lehren wollte.
Der sogenannte Kanonisierungsprozess (übrigens auch der des - christlichen - ATs) setzt schon im zweiten Jahrhundert ein.
Bedeutend ist dabei Origenes. Origenes in der sogenannten alexandirnischen Homerexegese geschult. Das war eine phiilologische Schule, die in ganz besonderem Maße Textkiritk betrieb. Das der Überlieferungsprozess durch Abschreiben ein durchaus problematischer ist, wußte man damals nur zur Genüge. Denn selbst Flüchtigkeitsfehler können von großer Bedeutung sein. Außerdem schrieb man noch und vor allem die älteren Handschriften (auch des NT) waren in der sogenannten Lextio continua geschrieben. MANSCHRIEBNURINGROSSBUCHSTABENUNDOHNEWORTABSTANDUNDKOMMATAODERAKZENTEN
Tectkritik arbeitet natürlich auch philologisch, d.h. man untersuchte Prache und Grammatik einer Zeit und versuchte so, moderneren Einfügungen auf die Spur zu kommen, wenn auch nur Anpassungen an eine in späterer Zeit üblichen Grammatik. Man untersuchte einzelne Autorenb (so z.B. Platon), um den Stil einer individuellen Person auf die Spur zu kommen und so entscheiden zu können, ob Schriften vielleicht Fäschungen waren. Oder eben man untersuchte die Geschichte, denn manch eine Fälschung hatte vergessen, dass vielleicht einige Ereignisse zu Lebzeiten des Platon noch gar nicht geschehen waren.
Auf eben diese Weise untersuchte Origenes die SChriften des AT, hier eher philologisch, indem er die verschiedenen Übersetzungen des AT sammelte (also Hebräisch, Griechisch etc.), nebeneinander Stellte und so versuchte, einem „ursprünglichen“ Text auf die Spur zu kommen. Das AT war damals die unumstrittene heilige Schrift der Christen.
Wie erwähnt, gab es ka noch keinen neutestamentlichen Kanon. Dennoch entstand ein zunehmendes Bewußtsein dafür, dass man Kriterien entwickeln müsste, welche Schriften denn nun „echt“ seien oder nicht. Markion war sicherlich der Auslöser: Da er von zwei Götern (mal verkürzt: den Schöpfergott der Juden und den „fremden Gott“ der Christen) ausging, ging er weiterhin davon aus, dass alle Stellen (und zwar im LkEv und bei den Paulusbriefen, nur diese Schriften interessierten ihn), die auf eine Verbindung zwischen dem „Gott des Evangeliums“ und dem der Juden hinweisen (also z.B. die Redeweise vom Vater) als Fälschung von Juden ansah, die die Christen von diesem „fremden“ und eigentlichen erlösenden Gott abhalten wollten, und sie stattdessen an ihren Gott binden wollten.
Für die Christen und vor allem für einen Philologen wie Origenes war dies natürlich ein Anlass, nach dem „ursprünglichen“ Text zu suchen. Hinzu kam ja, dass die Christen sich oft nicht gerade die besten Abschreiber leisten konnten, also die Qualität manches mal zu wünschen übrig ließ.
Von Origenes haben wir dann auch detaillierte Untersuchungen, so eben hat schon er herausgefunden, das der Hebräer-Brief, auch wenn er es behauptet, nicht von Paulus stammen kann (was heute jeder Neutestamentler und auch jeder Altphilologe aus rein sprachlichen, auch inhaltlichen, Gründen bestätigen kann).
Für den Kanonisierungsprozess ist weiterhin Euseb von entscheidender Bedeutung. Denn Konstantin beauftragte ihn mit der "Bibel"herstellung, da die Christen ja während der diokletianischen Verfolgung ihre Heiligen Schriften ausliefern mussten.
Nun stellte sich Euseb die Frage, wie unter der Fülle an „Christusoffenbarungsschriften“ auszuwählen ist.
Seine Kriterien sind nachzulesen in seiner Kirchengeschichte:
- allgemeine Anerkennung (Tradition)
- Echtheit
- Wahrheit
allgemeine Anerkennung bedeutet, dass Euseb fragte, welche Schriften die Gemeinden in Gebrauch hatten. Manche Gemeinde zu dieser Zeit hatte nur ein Evangelium, ein anderes 4 oder 5.
Echtheit war für Euseb die Frage nach dem Alter. Möglichst sollte ein Evangelium natürlich von einem Apostel stammen oder einem Apostelschüler. Er musste also herausfinden, welche Schriften „alt“ sind. Dazu las er die früheren Kirchenschriftsteller, also vor allem Schriften aus dem 2. Jahrhundert, und schaute, welche Texte sie zitieren. Da die ja immer nicht geschrieben haben „ich zitiere jetzt MArkus“, sondern eben nur ztiert haben, ist das eine bewundernswerte Arbeit. Hinzu kam, dass Euseb auf die umfangreichen Vorabreiten Origenes (ca. 180-250) zurückgreifen konnte.
- Wahrheit: Bei Euseb bedeutet das zunächst (was überraschen mag) die öffentliche Verlesung der SChrift - d.h. er fragte, welche Schriften in den Gemeinden verlesen wurde. Denn wenn in einer (natürlich:wink: rechtgläubigen Gemeinde eine Schrift öffentlich verlesen wurde, so hat sie ja Glauben erweckt und ist deswegen schon wahr.
Gnostische SChriften (die ja auch für uns heute noch leicht erkennbar sind) mit ihren mythologischen WEltentstehungslehren waren für Euseb nicht wahr.
Das wichtigste Argument für Euseb war jedoch das Erste in Kombination mit dem zweiten. Denn allein Apostolizität oder Schülerschaft bei einem Aposten (wie z.B. der Hirt des Hermas) waren kein Kriterium, weil diese Schriften zu wenig im allgemeinen Gebrauch war (obwohl Euseb gerade Hermas für überaus wertvoll hielt, was den Katechumenenunterricht anging).
Euseb hat übrigens am Ende nur 22-24 Schriften (das schwankt ein wenig) „ausgewählt“.
Der Kanonisierungsprozess ist dann wohl erst Ende des vierten Jahrhunderts zum Abschluss gekommen, basiert aber auf den Arbeiten von Origenes und Euseb.
Wenn ich mir z.B. das Nikodemus-Evangelium ansehen, mit seiner
dramatischen präzisen Darstellung vom Gerichtsablauf mit
Pilatus, dann fragt man sich warum so etwas als unwichtig
beiseite gelassen wurde.
Das Nikodemus-Ev (oder Acta Pilati, so findet man es in der Literatur) ist in seiner frühesten kompositorischen Fassung aus dem fünften Jahrhundert (verwendet aber, wenn auchnicht viel, älteres Material, wohl schon aus dem zweiten Jahrhundert.Als Evangelium liegt es erst nach Euseb und nach der Kanonisierung der SChriften vor.
Es gibt übrigens nichts im NikodemusEv, was der damaligen christlichen Lehre widersprochen hätte. Vor allem wohl auch nicht der klar judenfeindlichen Ausrichtrung, erkennbar aus dem „angehängten“ Brief des Pilatus an den Kaiser, in dem er die Schuld am Tod Jesu allein den Juden zuspricht. Das es in seiner Gesamtheit nicht historisch sein kann, zeigt schon die Behauptung, eine Übersetzun aus den hebräischen (!) Prozessakten zu sein.
Das NikEv ist kunsthistorisch übrigens sehr weit verbreitet: Jede Darstellung der Höllenfahrt Christi beruht darauf.
Das nur als ein theoretisches Beispiel. Es verlangt keine
historische Authenzität. Die Willkür aber bleibt und auch die
Verfälschung.
Verfälschung halte ich für absolut falsch: Es würde eine Absicht unterstellen, die „Betrügerisch“ ist. Der Versuch, Kriterien für Echtheit aufzustellen (und unsere heutigen philologischen unterscheiden sich nicht von den danamigen), kann ja schlecht als Verfälschung gewertet werden, ebenso wie ein Irrtum, der gemacht wurde.
Willkür, da gibt es sicherlich einige, die das behaupten, allerdings könnte man sich berechtig nur auf den Zeitpunkt der Festlegung beschränken. Also, warum kann ein Ev, wie das NikEv, das ja nach der Kanonisierung geschrieben wurde, nicht auch authentisches Wort Gottes sein? Es gibt ja auch durchaus christliche Gruppierungen, die sich auf jüngere Offenbarung beziehung, u.a., weil sie diese zeitliche Fixierung für Willkür halten.
Die Christen haben sich aber ab dem dritten Jahrhundert für das geschichtliche Kriterium (Alter) entschieden und das der Autorenschaft.
Bei letzteren können wir heute einige Widersprüche anmelden (erst recht, wenn es um dn Apostelstatus geht, aber auch in der Alten Kirche hielt selbst Origenes manches für einen Paulusbrief, den wir heute nicht mehr als einen solchen ansehen).
Das „Alterskriterium“ hat noch Bestand. Zwar können wir einigen anderen Schriften (so die Clemensbriefe, nicht im NT) zeitlich mit den sogenannten katholischen Briefen (im NT) gleichsetzen - und man könnte also fragen, warum nehmen wir die Clemensbriefe nicht auf. Andererseits können wir feststellen, dass das Evangelium als Textgattung sicherlich eine Erfindung des Autors des MkEv ist, es mithin das älteste Evangelium, das geschrieben wurde, ist. Die Paulusbriefe können wir ebenfalls recht gut datieren. Wir können (wie gesagt, noch) feststellen, dass die frühen Kirchenschriftsteller das Alterskriterium korrekt angewandt haben (was angesichts der großartigen philologischen Wissenschaft, der die Christen sich bedienten, irgendwie auch nicht erstaunlich ist).
Dabei sollte man, man hat es damals nicht getan und sollte aufhören, es heute zu tun, das „Alterskriterium“ nicht als „Historizitätskriterium“ verwenden. Natürlich ist das Alter einer SChrift ein guter Hinweis, um auch historisch zu fragen. Aber ein Evangelium will schon als Gattung keinen historischen Bericht über Jesus von Nazareth bieten, sondern alle Evangelien wollen „verküdnigen“, d.h. jedes sieht in der berichteten Botschaft eine religiöse. Das gilt dann ebenso für all die anderen SChriften, die es nicht in den Kanon geschaffen haben. Ein geschichtswissenschaftlicher, philologischer und auch religionswissenschaftlicher Grundfehler all derjenigen, die meinen, eine Schrift, die nicht im Kanon ist, habe mehr Glaubwürdigkeit verdient, ist der, anzunehmen, diese SChriften seien rundweg „Objektiv“ - naja, die meisten haben sie auch nicht selbst gelesen:wink:
Insofern ist m.E. die größte Leistung der Kirchenväter bei der Kanonisierung und auch die eigentliche Absicherung gegen „Verfälschung“ und „Willkür“, dass man immer die vier Evangelien nebeneinander hat stehen lassen. Nicht erst Augustin hat entdeckt, dass alle biblischen Worte durch Menschen für Menschen geschrieben worden sind, d.h. mihin durch ihre Situationsbezogenheit von späteren Generationen auch falsch oder gar nicht mehr verstanden werden können. Auch dadurch ergeben sich zwangsläufig die Widersprüche.
Dies ist dann letztlich der Grund, warum es eine christliche Hermeneutik gibt, die zwar derzeit wieder in Gefahr steht, von ganz überraschen Gruppen abgeschafft zu werden, an deren Existenz es jedoch keinerlei Zweifel geben kann.
Grüße,
Taju