Liebe Jule,
auch wenn du es vermutlich nicht so gern hören möchtest:
doch, will ich, denn Deine Einschätzung stimmt ja auch mit meiner (fast) überein! Und ich danke Dir für Deine Offenheit!
Ich
denke, du bist weit davon entfernt, den Tod deines Mannes
verarbeitet zu haben.
Das habe ich nie und nimmer behauptet und werde es auch nie tun. Im Gegenteil!
Nach meiner Einschätzung hast du dir
eine „Blase“ geschaffen, in der du überleben kannst, indem du
nur das an dich ranlässt, was du glaubst, aushalten zu können.
Deshalb schrieb ich ja, dass ich einigermaßen stabil sei.
Diese Blase hältst du dadurch aufrecht, dass du scheinbar
offensiv mit dem Verlust umgehst.
Das schrieb ich Gandalf: Mein Aktionismus ist sicherlich ein Bestandteil einer Verdrängung.
„Scheinbar“ deswegen, weil du nur die Dinge angehst und/oder
nach außen trägst, die für dein Seelenheil nicht bedrohlich
sind.
Doch sie sind teilweise „bedrohlich“.
Damit schaffst du dir gleichzeitig eine Rechtfertigung
dafür, bestimmte Gedanken nicht denken und bestimmte Dinge
nicht tun zu müssen.
Ich denke eher, dass ich viel zu viel denke/Gedanken zulasse, und genau das mich auch am Handeln hindert.
Das Vermeiden des Grabbesuchs gehört
dazu. Dorthin zu gehen wäre nämlich der entscheidende Schritt,
um den Tod deines Mannes in seiner ganzen grausamen
Endgültigkeit anzuerkennen.
Dafür benötige ich kein Grab. Wirklich nicht! Ich habe meinen Vater bis zu seinem Krebtod auch gepflegt und war während seines Sterbens bei ihm. Er liegt nur 2km von mir entfernt. Ich habe ihn nur „besucht“, wenn mal wieder jemand anderes beerdigt wurde.
Die Endgültigkeit habe ich bei meinem Vater und meinen Mann in den Tagen des Sterbens erfahren. Mehr Endgültigkeit brauche ich nicht, will ich nicht, kann ich nicht ertragen…
Um das zu vermeiden, schaffst du
dir Schutzbehauptungen wie die Beziehung zu deiner
Schwiegermutter, die du dadurch bekräftigst, dass dein Mann ja
auch kein gutes Verhältnis zu ihr hatte.
Na ja, Schutzbehauptungen? Ich war ja wegen des Drängens von Freunden dann doch auch bereit, zur Beisetzung zu fahren, habe auch Musik ausgesucht und habe eine Rede vorbereitet. All dies hat mir meine Schwiegermutter aber untersagt.
Unterm Strich hat deine Schwiegermutter aber überhaupt nichts
mit deinem Besuch am Grab zu tun.
Doch! Da dieses Grab nur eine Produktion meiner Schwiegermutter ist (die mir ihre Vorstellung noch zwei Tage vor seinem Tod in allen Details mitgeteilt hat, obgleich ihr Sohn nur ein paar Meter entfernt hier bei mir im Sterben lag - und sie ihn ein paar Minuten zuvor gesehen hat - aber von ihm rausgeschmissen wurde).
Du bist intelligent, reflektiert und stark.
Wenn Du das meinst, nehme ich es mal als Kompliment/Aufbau an, aber ich weiß natürlich, dass mir meine vermeintliche Stärke auch nur bedingt hilft! 
Und all diese
Faktoren verhindern derzeit, dass du zulässt, wirklich durch
die Trauer durchzugehen. Du kämpfst wie eine Löwin, um am Tod
deines Mannes nicht zu zerbrechen und schaffst dir unzählige
Strategien, um dein Selbstbild aufrecht zu halten.
Aber was ist denn Trauer - und der „Durchgang“? Meine „Außenwirkung“ ist natürlich Bestandteil, um mich nicht vollends zu verlieren. Aber ich habe nie behauptet, dass ich nicht weine, mich nicht hilflos und gelähmt fühle, ich immer „stark“ sein möchte.
Das Problem ist: Durch den Tod eines geliebten Menschen
verliert man derartig die Orientierung, dass das Selbstbild
nur noch ein trügerisches Bild ist, das aus der Zeit stammt,
als man noch „ganz“ war.
Das ist wohl wahr!
Man untermauert es durch unaufhörliche „tapfere“ Taten, und
hält sich daran fest, dass die Umgebung darauf reinfällt.
Aber sind diese Taten trotz Tod nicht auch noch Bestandteil einer Selbst? Sicherlich lassen sich viele „blenden“, so dass sie mich nicht bedrängen…
Nicht, weil man sie täuschen möchte, sondern weil es einem die
Sicherheit gibt, dass man offensichtlich stark genug ist, es
zu überleben.
Aber geht es dann nicht erst einmal um das „Überleben“? Ich täusche die Menschen auch nicht - ich denke, ich irritiere sie.
Und so schafft man sich seinen ganz persönlichen Aktionsrahmen
und redet sich ein, es würde funktionieren.
Natürlich „funktioniert“ nichts mehr - ich funktioniere, mache meinen Job sehr gut, habe tolle Kunden, die auch alle über meinen Zustand wissen. Aber man braucht doch einen Rahmen, oder nicht? Ist dieser Flucht?
Man gesteht sich
eine Zeit des offensiven Trauerns zu, aber man schafft sich
schnell innere Grenzen dafür. Man beschließt irgendwann, über
bestimmte Sachen nicht mehr zu sprechen, Freunde mit
bestimmten Dingen nicht mehr zu strapazieren und möglichst
viel „Normalität“ um sich herum zu erschaffen.
Doch, ich spreche noch sehr viel über meinen Mann, seine Krankheit, sein Sterben und auch über die schönen Sachen. Ich denke eigentlich nicht, dass ich vor der Trauer wegrenne. Aber vielleicht irre ich mich auch.
Das gibt zum einen ein Stück Sicherheit, zum anderen
verhindert es aber, das Leid in voller Wucht aushalten zu
müssen.
Puh, die Wucht habe ich durch und scheue mich ja auch nicht davor, rechne jederzeit damit - auch wenn es hier mit meinen Beiträgen (auch zu anderen Themen) anders erscheinen mag. Aber muss ich es mir diese Wucht jetzt wieder bewusst antun?
Das Verdrängen von Dingen hilft dabei - und es ist
unglaublich verlockend, diesen Weg weiterzugehen.
Für mich nach diesen Monaten definitiv. Aber es sind doch auch nur kleine Momente der Ablenkung/der Verdrängung - sollte ich sie daher meiden?
Leider erfährt man dadurch keine Heilung.
Die kann es nach meinem Geschmack auch nicht durch einen Grabgang geben - und auch nicht, wenn ich mich weiterhin vollends der Trauer hingebe.
Die Zeit alleine ist
es nämlich nicht. Und erst recht nicht die Scheinsicherheit,
die man um sich herum konstruiert, die „Blase“, die einem die
Illusion lässt, man sei dabei, den Schmerz allmählich hinter
sich zu lassen.
Ich will den Schmerz auch gar nicht hinter mir lassen, ich will einfach mit dem Schmerz leben lernen. Sonst hätte ich mich ja wirklich direkt neben meinen Mann legen können und die restlichen Medikamente in mich reinstopfen können!
Danke für Deine Offenheit!
Mag sein, dass ich nicht ganz frei von Übertragung bin - und
doch: Ich erkenne in deinem Verhalten einige Parallelen und
lege dir ans Herz, es nicht mit dir allein auszumachen.
Will ich ja eigentlich auch gar nicht!
Überprüfe mal möglichst ehrlich, in wie weit du wirklich Hilfe
von anderen Menschen annehmen kannst.
Wenn Du Deine Übertragung nochmals anwendest, kennst Du die Antwort! 
Schau dir an, ob du
diese nicht nur kontrolliert (durch deinen eigenen Verstand)
zulassen kannst und hinterfrage dich, ob du dir aktuell
zugestehen würdest, nicht mehr zu funktionieren.
Gibt es eine Möglichkeit, den Verstand/Kopf auszuschalten - ich wäre dankbar drum! Natürlich bekommen meine Freunde (und auch Ihr hier) mit, dass es mir nicht gut geht, aber es eben schon wieder so gefiltert, dass viele meinen: Die kommt schon klar!
Nicht nur
situativ - das erlaubt der Verstand dir vermutlich großzügig -
sondern grundsätzlich und umfassend. Gäbe es wirklich ein
Nest, in das du dich flüchten wollen würdest, bereit dazu, mal
eine Welle die Verantwortung abzugeben? Jetzt, ein Jahr nach
dem Tod deines Mannes. wo es doch schon so viel besser geht?
Alle Verantwortung abgeben kann und will ich definitiv nicht - Fluchtmöglichkeiten habe ich genug, aber ich nehme sie nur eingeschränkt wahr!
Falls du denkst, das nicht mehr zu brauchen, besuch’ das Grab
deines Mannes.
Was ist jetzt „das“?
Ich werde dieses Grab nicht besuchen!
Ich danke Dir nochmals für Deine offenen Worte - auch zu Deiner Erfahrung!
Mein Beitrag ist wohl etwas „schusselig“ - verzeiht!
Liebe Grüße und einen schönen Abend
Kathleen