Wieviel Ignoranz kann eine freie Gesellschaft verkraften?

Hallo,

In Berlin-Hellersdorf wird ein Gedicht des Schweizer Lyrikers Eugen Gomringer von der Fassade entfernt. Ich finde das unerträglich.

Aber seht selbst:

Ein Pyrrhussieg für den Feminismus, ein feiger Angriff auf die Freiheit der Kunst.

Gruß, Hans-Jürgen Schneider

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Beispiel Tingeli 1964 an der EXPO in Lausanne. Die Welt hat den Kopf geschüttelt, speziell aber die Schweizer.
Vage heute in der Schweiz gegen Tingeli was zu sagen, Verhaftung, Geldbusse und Ausweisung auf Lebzeiten drohen dir.
So ändert sich die Welt der Kunstbanausen.

Hallo,
ja, à la Alice Schwarzer, wird hier versucht, solange soviel hineininterpretieren, bis Sexismus herauskommt. In dem Gedicht Sexismus zu finden, dazu gehört IMHO schon ein bisschen Verfolgungswahn. Es ist schade.
Ist denn Gomringer irgendwie als Sexist bekannt?
Und selbst in der Hochzeit der feministischen Anklagen war es eigentlich doch nicht verpönt, Frauen und Blumen und Straßen (ich glaube es sind hier Alleen) in einem Atemzug (oder Gedicht) zu nennen?
Nun ja, ich bin im letzten Drittel des vergangenen Jahrtausends groß geworden und habe vielen Sexismus Debatten beigewohnt, brauche hier aber auch kaum die Freiheit der Kunst zu bemühen, um den Text zu verteidigen.
Ich halte es für sinnvoll in der Kunst und im Leben Blumen und Frauen zu bewundern und betrachten schön finden zu dürfen, unabhängig davon, ob ich Mann Frau oder Künstler oder mehrere von den dreien bin. (Und ich finde es vice versa schade, wenn einem dem Auge gefälligen Mann keiner nachschaut, oder ihn bewundert).
Honi soit qui mal y pense,
es grüßt ynot

Jaja, und morgen kräht kein Hahn (inkl. Dir) mehr danach. Deswegen lautet die Antwort auf Deine Frage: juckt morgen niemanden mehr und daher wird das auch die Gesellschaft nicht in irgendeiner Form beeinflussen oder gar beeinträchtigen.

Dies nur für den Fall, daß Du ernsthaft eine Antwort auf diese Frage haben wolltest - was ich für unwahrscheinlich halte.

Das hat weniger mit Feminismus (und auch nicht unmittelbar mit den im Artikel erwähnten „vor lauter Gendergedanken“) zu tun als mit einem Fanatismus, der noch keinen feststehenden Namen erhalten hat und deshalb immer wieder anders paraphrasiert wird, etwa als amerikanischer Evangelikalismus, angewendet auf die kulturelle Sphäre.

Nur weil die Thematik einen „feministische“ ist (natürlich hat das Gedicht einen männlichen Blick und lobpreist das traditionell männliche Begehren), ist der Gestus noch lange keiner. Der ist eher talibanesk.

Gruß
F.

Echt?
https://www.emma.de/artikel/fuck-no-political-correctness-332387
(nicht von Schwarzer selbst geschrieben, aber EMMA und Schwarzer kann man schon mal gleichsetzen)

Nicht Verfolgungswahn, Bildung!
Der Sexismus ist diesem Gedicht ist nicht zu bestreiten.
Der strittige Punkt ist der, wie man damit umgeht.

Gruß
F.

Zu Deutsch: Alleen/Alleen und Blumen/Blumen/Blumen und Frauen/Alleen/Alleen und Frauen/Alleen und Blumen und Frauen und/ein Bewunderer.

Das Gedicht ist sicherlich nicht sexistisch. Hier ist es aber doch auch nur irgendwie „Kunst am Bau“. Wenn man das Gedicht überpinselt, weil man etwas neues will, gibt es das Gedicht irgendwo (z.B. Gedichtband) ja weiterhin. Es ist nicht weg.
Gruß
rakete
Ich schätze, dass wäre auch Alice Salomon egal gewesen.

Hallo,
ich bestreite ihn. Wo ist er denn? Jetzt einmal abgesehen von der Sprache, die der Schweizer benutzt, weil sie vermutlich seine Muttersprache ist.
Kann man das anders verstehen, als dass er verehrt (admirador) und zwar Blumen, Frauen und breite Straßen?
Wo ist da der Sexismus?
Den kannst du natürlich hineininterpretieren in den Verehrer.
Aber was ist daran sexistisch, wenn jemand Frauen und Blumen und wasauchimmer verehrt? In verehren steckt das Wort Ehre drin auf deutsch, in amirador bewundern. Was ist daran sexistisch?
IMHO braucht man da keine künstlerische Freiheit, dass gefälligst jeder jeden bewundern und verehren kann so viel er will. Sexismus fängt wo anders an.
Ergo: ich bestreite das erstmal, hiermit ist es nicht unbestritten.
So.
Grüße,
ynot

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Natürlich kann man das Gedicht auch un-sexistisch interpretieren.
Das bestreite ich nicht.
Man kann aber schwerlich behauptet, dass es un-sexistisch ist.

Und natürlich ist es auch bereits eine Form der Interpretation, wenn man den Zusammenhang „Blume - Frau - Betrachter/Bewunderer“ als a) sexuell (die erste Dimension von „Sexismus“) und als b) männlicher Blick auf die Frau (zweite Dimension von „Sexismus“) interpretiert, aber es ist sicherlich keine „an den Haaren herbeigezogene“ Interpretation, sondern eher eine, die Gomringer mit seiner Wortfolge unweigerlich heraufbeschworen hat (wie bewusst-gewollt auch immer; das kann nicht der entscheidende Punkt sein), weil Begriffe wie „deflorieren“ oder Kulturprodukte wie Goethes ‚Heideröslein‘ oder Rammsteins ‚Rosenrot‘ (um auch etwas Populareres zu nennen) usw. halt nun mal Teil unseres gesellschaftlichen Interpretationscodes sind.

Aus meiner Sicht kann es daher nicht darum gehen zu bestreiten, dass dieses Gedicht sexistisch ist (= eine leicht erkennbare sexistische Lesart besitzt), sondern darum, in Frage zu stellen, dass Sexismen unter allen Umständen etwas „schlechtes“ sind und immer und überall aus dem öffentlichen Raum entfernt werden müssen. Gerade letzteres halte ich für quasi-religiösen Fanatismus.

Gruß
F.

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Hallo,

ich nehme Deine Meinung , soweit sie mich persönlich betrifft, zur Kenntnis. Die Gesellschaft wird längst beeinflußt. Weltweit. So gab es Riesendiskussionen wegen einer Ausstellung von Balthus´ Werken im Metropolitan Museum in New York.

An welchen gesellschaftlichen Fronten die Freiheit der Kunst auch eingeschränkt werden soll; es geht immer um den Verlust der Freiheit der Gesamtgesellschaft. In manchen Zirkeln, besonders im akademischen Raum, werden Tendenzen in diese Richtung schon spürbar. Das ist mir keineswegs egal.

Gruß, Hans-Jürgen Schneider

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hä?
was bitte ist an:

Alleen
Alleen und Blumen
Blumen
Blumen und Frauen
Alleen
Alleen und Frauen
Alleen und Blumen und Frauen und ein Bewunderer

denn bitte sexistisch?!

Klär uns doch mal auf?
Sollte es etwa „Bewundernde“ heissen oder was?

Kann man mal bitte die Kirche im Dorf lassen!

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Hab ich doch bereits beantwortet!

In Kurzfassung nochmal:

  1. flores y mujeres, „Blumen und Frauen“, lässt zweifelsohne das weibliche Geschlecht anklingen (z.B. gänzlich unmissverständlich flor -> Defloration)
  2. Der „admirador“ ist nicht nur der männliche Bewunderer, sondern im Wortsinn v.a. der männliche Betrachter, also der Träger des männliche Blicks (verdoppelt in dem des Dichters)

Diese beiden Punkte sind ja wohl das, was man -unaufgeregt- „Sexismus“ nennen kann (1. Bezug zur Sexualität, 2. geschlechtsspezifischer Blick), ohne deshalb gleich in blindwütigen Aktionismus verfallen zu müssen.

Ich finds by the way interessant, dass die Hochschule in erster Linie Erzieherinnen und im psychosozialen Feld Tätige ausbildet. Gerade die Felder, in denen Männlichkeit extrem bekämpft und ausgemerzt wird.
Das ist schon eine gewisse bittere Pointe an der Geschichte.

Gruß
F.

Hi,
doch. Das tue ich hiermit.
Es hat mit Gender à la Geschlecht (lat. sex) zu tun, weil die Frau erwähnt ist. Sonst erst einmal nicht. Dann wäre jeder Text, in dem die Worte Mann, Frau, Mädchen, Junge usw. vorkommen sexistisch. Das ist eine zu weit gefasste Definition.
Das Weitere bis hin zum deflorieren, halte ich nicht unbedingt erkennbar als gewollt, sondern im Kopf der BetrachterIn gebastelt.
Auch jeden lyrischen Text, in dem Frau oder Mädchen und Blume gemeinsam vorkommen, gleich gewollt oder ungewollt (man kann das Unterbewusststein als Grund des Wollens ruhig dazunehmen), mit Goethes „Heideröslein“ zu verbinden und dem Verfasser (wie wär’s, wenn’s eine sie wäre?) Sexismus zu unterstellen halte ich tatsächlich für schariaesk (oder talibanesk).
Grüße, ynot

Hi,
nein „Verehrer“, das böse Wort ist von der Sexismus Popelei verboten worden, bewundern auch, anschauen nur heimlich, sonst auch, oh böse Welt,
Ich will Schönheit genießen, egal ob Mann, ob Frau, ob rot, ob braun, ob henna…
Grüße ynot
P.S. bin auch für die Kirche im Dorf

Ja, das wäre zu weit gefasst.
Ich hab es aber deutlich enger gefasst, nämlich als Kombination flor-mujer (d.h. Bezug auf das weibliche Geschlechtsteil) plus (doppelter) männlicher Blick (der des „admirador“ und der des Dichters).

Diese Kombination hast du nicht in jedem Text, in dem die Worte Mann, Frau, Mädchen, Junge vorkommen.

Du weigerst dich schlicht anzuerkennen, dass diese „sexistische Lesart“ (der ich zugestehe, dass sie nicht die einzige ist) nun mal auf der Hand liegt, also sicher nicht gerade blühender Phantasie entspringt, sondern gut und in wenigen Worten argumentativ begründbar ist.

Insofern kann man natürlich, wie gesagt, selbst eine un-sexistische Lesart begründen (und von mir aus auch behaupten, das wäre auch die Lesart, die der Dichter gewollt habe), aber man kann nicht die so leicht erkennbare ‚sexistische Lesart‘ leugnen ohne sich damit ziemlich unglaubwürdig zu machen, weil sie halt einfach „objektiv“ im Text drin ist, ob man will oder nicht.

Da ist der admirador halt nun mal keine admiradora und auch kein paseante, und es steht flores y mujeres und nicht paraguas y mujeres - oder so.
Aus meiner Sicht vollkommen lächerlich, so etwas Basales in Frage zu stellen.

Gruß
F.

Richtig, man muss das als Teil einer Serie bzw. sogar von mehreren Serien sehen, um seine Bedeutung sehen zu können.
Z.B. hat der Autor recht, wenn er die Serien „immer weitere Herabsetzung des persönlich Zumutbaren“ und „zunehmende ‚Ent-Triggerung‘ der Hochschullehrpläne“ (wie in den USA schon deutlich weiter fortgeschritten als in Deutschland) anspricht.

Gruß
F.

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ganz ehrlich?
Ihrs tickt nicht ganz richtig!
Da müsstet ihr ja per se die ganze „Kabale und Liebe“-Ergüße der letzten 5000Jahre verbieten…

Ich kann deine Reaktion nicht verstehen. Hans-Jürgen hat hier eine berechtigte und interessante Frage gestellt. Im weitesten Sinne geht es dabei um den - gegenwärtig allerorten zu spürenden - Konflikt zwischen einem Freiheitsrecht (hier: Kunstfreiheit bzw. Ausdrucksfreiheit, also die Freiheit einer öffentlichen Stelle, Kunst zu präsentieren) versus selbst geschaffener gesellschaftlicher Konventionen („Man“ darf nicht dies und jenes - hier: Man darf kein Gedicht zur Schau stellen, das die harte Prüfung der selbsternannten Sexismus-Wächter nicht besteht).

Hans-Jürgens Frage, wie viel an derartigen Einschränkungen die Gesellschaft verkraften könne, ist durchaus berechtigt. Aber langsam. Erst sollte man analysieren, was genau geschehen ist. Anders, als beispielsweise @Raketenbasis vermutet, wird das Gedicht nicht einfach überstrichen, weil man etwas anderes haben will. Klar, die Wand wird irgendwann mal überstrichen. Aber in diesem Fall ist es eben so, dass es eigentlich noch lange dort zu lesen sein sollte. Man plant die Entfernung bewusst, weil gewisse Kreise es fordern.

Mithin geht es um Ausübung von Macht. Logik und Stringenz ist nicht dabei. Würde jemand dieser „Machthaber“ etwas gegen Frauenunterdrückung unter Muslimen sagen? Sicherlich nicht. Es geht also um Machtausübung gegenüber einem gewissen Feindbild (gerne werden „weiße, alte Männer“ oder die von „Sexismus und Rassismus durchsetzte westliche Gesellschaft“ als Feindbild ausgemacht, du kannst es gerne auch anders nennen, das Feindbild „die Banken“ kennst du ja auch).

Ich empfehle nochmals das Interview mit Röder im Tagesspiegel. Auszug:

Eine Folge der Postmoderne ist die Genderdebatte. „Gender Mainstreaming“ ist Ziel internationaler Abkommen. Sie sind einer der wenigen renommierten Gesellschaftswissenschaftler, der diese Entwicklung kritisch sieht. Was stört Sie daran?

Grundsätzlich hat die Postmoderne völlig Recht: Die Nation ist genau so wenig eine naturgegebene Kategorie wie die bürgerliche Geschlechterordnung des 19. oder 20. Jahrhunderts. Beides sind kulturelle Konstrukte, beides sind auch Ordnungen von Macht. Jetzt aber kommt mein Einwand. Die Postmoderne sagt, dass alle Ordnungen diskursiv erzeugte Machtkonstrukte sind. Wenn das so ist, dann geht es auch bei den Forderungen nach Anti-Diskriminierung, Diversität und Gleichstellung um Macht.

Das ganze Interview ist lesenswert. Auf den vorliegenden Fall übertragen bedeutet seine These: Es gibt einen gewissen Kreis an Leuten, der sich herausnimmt, darüber bestimmen zu können, wo die Grenzen der Kunstfreiheit sind. Ein nicht definierter Zirkel an Personen und Institutionen definiert, was zulässig ist und was nicht. Wechselseitig gestützt werden diese Konventionen durch Kirchen, Schulen, Parteien usw. Dort wird auch gesagt, was man zu tun habe, Abweichler sind nicht gern gesehen.

Man erinnere sich an früher, beispielsweis an die fünfziger oder sechziger Jahre. Damals hieß es etwa, als Mann dürfe man keine langen Haare haben. Oder man dürfe keine gleichgeschlechtliche Person lieben. Gab es dafür sachliche Gründe? Kein Mensch wird wegen seiner Haarlänge zum Bombenleger. Kein Homosexueller hat jemals jemanden mit seiner angeblichen „Krankheit“ angesteckt. Damals hat eben auch ein selbsternannter Zirkel an Leuten die Konventionen gesetzt, und die Lehrer in den Schulen haben es für richtig befunden, ebenso wie die Kirchen oder die Parteien.

Macht über andere ausüben, bestimmen, was man zu tun und zu lassen habe. Man kriegt es nicht aus den Menschen raus. Vielleicht kann man es soziologisch oder evolutionär erklären, ich weiß es nicht.

Mein Punkt ist schlicht der, etwas als Sexismus anzuerkennen und trotzdem nicht verbieten wollen.

Oder um es in deinen Worten zu sagen: die Kirche im Dorf lassen, aber die Kirche Kirche nennen.

Gruß
F.

Hierzu noch Müller:

Das klingt alles sehr salomonisch. Aber es hat etwas Wohlfeiles, es ersetzt die Attacke auf das Gedicht, gegen die sich ästhetisch oder politisch argumentieren ließ, durch ein neues Regelwerk, in dem das anstößige Gedicht gewissermaßen aus Routine verschwindet, ohne dass von seiner Anstößigkeit noch groß die Rede ist. Diejenigen, die von Beginn an eine Entfernung des Gedichtes gefordert haben, können sich nun als Sieger fühlen, ohne sich zu ihrem ursprünglichen Motiv noch einmal deutlich bekennen zu müssen. Daher der schale Nachgeschmack dieser Entscheidung.

Interessanter Punkt, das mit der Routine. Ja, man hat das Gefühl, dass es nicht mehr nur um Einzelfälle geht, sondern dass eine „Einsatztruppe“ möglichst immer und überall auf der Suche ist: Hier ist etwas sexistisches, dort hat jemand etwas rechtes gesagt usw., das alles muss „entfernt“ werden bzw. die Person muss geächtet werden, sobald man es entdeckt hat. Eine Art Automatismus, eine Routine.


Schließlich noch Grimm auf der Achse:

Es mag viele kopfschüttelnde Beobachter gegeben haben, die die Eiferer belächelten und darauf vertrauten, dass kunstsinnige Professoren und die doch sicher kulturbeflissene Leitung der Hochschule einen solch barbarischen Akt der Lyrik-Zensur nicht zulassen würden.

Doch offenbar wiegt die Angst schwerer, eventuell von Aktivisten als Sexist, als vorsätzlicher Saboteur an der politischen Korrektheit oder gar als Rechter gebrandmarkt und angeprangert zu werden. So muss man die Meldung wohl deuten, nach der der Akademische Senat mehrheitlich beschloss, das Gedicht zu entfernen. Nehmen wir also Abschied von Eugen Gomringers Zeilen.