Irrtum: Kant - Einstein
Hallo Tychi,
Es gibt wohl tatsaechlich Philosophen, die sagen Zeit sei eine
Illusion. Ich kann keinen konkreten nennen und denke auch,
dass sie eher den oestlichen Religionen b.z.w. Philosophien
entspringen, also dem Buddhismus, Hinduismus oder Taoismus.
das ist aus meiner Sicht nicht richtig, vielmehr würde ich behaupten, dass die meisten (fast alle) Philosophen die Zeit als nicht existent denken würden. Es ist allerdings etwas komplizierter, als du es andeutest.
Diese Behauptung gruenden sie auf eine „direkte“ Naturerfahrung, wie
sie sie nach langem Meditieren erleben, verglichen mit welcher
unsere rationale Annaeherung an die Natur ein blosses Umhertapsen in
unserer eigenen irrefuehrenden Wahrnehmungsapparatur sei, ganz gleich
ob wir diese mit Hilfsmitteln (Messinstrumenten, Mikroskopen)
verfeinern oder nicht.
Diejenigen Philosophen, die ihr Urteil über die Zeit aus direkter Naturerfahrung schöpfen, sind in der Tat eher im östlichen Bereich anzusiedeln, jedenfalls so, wie du es beschreibst.
Ebenso irrefuehrend seien unsere Denkmuster, deren Voraussetzung Raum
und Zeit sind. In diesem Rahmen koennten wir nur Projektionen
der Wirklichkeit sehen, aus denen wir die Wirklichkeit selbst aber
nicht rekonstruieren koennten.
Das genau ist die eigentlich philosophische Frage, die bis heute nicht geklärt ist, weil die Voraussetzungen der Frage nicht eindeutig geklärt sind. Diejenigen, die wie etwa Kant die Wirklichkeit als Projektion sehen, werden häufig so missverstanden, dass sie behaupten würden, die Welt (und damit auch die Zeit) existiere nicht. Das ist aber ein Irrtum, denn die Position sagt lediglich aus, dass die Zeit auf verschiedene Arten denkbar ist. Man kann die Zeit als Naturphänomen betrachten (empirische Physik), und man kann die Zeit als Bedingung der Möglichkeit von (empirischer) Erkenntnis betrachten (Kant). Diese zweite Betrachtungsart Kants ist nicht so gedacht, dass es keine Zeit gäbe, sondern nur so gedacht, dass wir über diese realphysikalische Zeit nicht wirklich etwas aussagen können, sondern nur sagen können, dass unsere (menschliche) Erkenntnis an die Zeit als Voraussetzung von Erfahrung gebunden ist, womit aber noch nichts gesagt ist über die Beziehung dieses Zeitverständnisses zu dem der Physik.
Man hat in den zwanziger Jahren vor allem diese Frage so verfehlt diskutiert, weil man meinte, man müsse je nach Standpunkt Einstein gegenüber Kant oder umgekehrt Kant gegenüber Einstein verteidigen. Das ist nach meiner Überzeugung ein Irrtum, der eben darauf beruht, dass man von physikalischer Seite Kant unterstellt, er hätte gesagt, die Zeit existiere nicht, oder alternativ auf dem Irrtum beruht, Einstein hätte Kant revolutioniert. Beides ist falsch, weil die Bezugspunkte andere sind. Richtig ist, dass sowohl Kant als auch Einstein den Finger auf die Wunde gelegt haben, die wir nicht wahrhaben wollen, nämlich dass wir nicht wirklich wissen, was Zeit eigentlich ist.
Wie dem auch sei. Ich moechte gerne wissen, wie jemand allen
Ernstes ohne Zeit auskommen will. Natuerlich muss sich jegliche
Erlaeuterung innerhalb der mir zugaenglichen Denkmuster bewegen,
wenn ich sie verstehen soll, also in einem Raum, der zur
Beschreibung des Phaenomens Zeitlosigkeit gerade nicht geeignet ist,
aber vielleicht kann mir der ein oder andere trotzdem eine Ahnung
vermitteln.
Das ist ein Problem, denn wenn du dich weigerst, den Raum genauso wie die Zeit auch nur möglicherweise als nichtexistent zu denken, dann hast du das Problem, dass du deren Existenz einfach unterstellst. Das ist im Prinzip auch richtig, jedenfalls vom physikalischen Standpunkt aus, weil ja auf den Messungen die Physik beruht. Freilich ist mit den Messungen selbst über diese Messungen als Erkenntnisse noch gar nichts gesagt. Man kann aus philosophischer Perspektive allenfalls sagen, dass die Zeit eben das ist, was wir messen, und das was wir messen, Zeit nennen. Aber damit ist wenig gewonnen in Bezug auf die Wesenserklärung der Zeit.
Meiner Auffassung zufolge gibt es wirklich Bewegungen, d.h.
Objekte aendern ihren Ort. Damit folgt notwendig ein Zeitbegriff und
Kausalitaet, die im Uebrigen zusammen mit der Zeit von jenen
Mystikern verworfen wird.
Ich kann so oft eine Tasse zu Boden fallen lassen wie ich
will, niemals wird die Tasse am Boden zerbrechen, bevor ich sie
losgelassen habe.
Da habe ich nun aber schon „bevor“ bnutzt; ihr seht, dass ich
dem Denken in Zeit, Raum und Kausalitaet nicht entkommen kann.
Das genau ist die philosophische Erkenntnis, von der du im Moment meinst, dass sie physikalischer Natur sei. Kant fasst Zeit, Raum und Kausalität als Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis - und diese Erklärung hat denselben Effekt wie dein Tassenbeispiel: die drei Begriffe sind für den denkenden Menschen unabweisbar, weil sie die Formen sind, in denen er erkennt. Er erkennt sie nicht selbst, sondern mit ihnen, sein Denken ist so aufgebaut, dass er nur in ihnen denken kann.
Wie gelingt dies jemandem?
Es gelingt eben nicht. Die Behauptung es gelänge, ist jedenfalls keine philosophische, allenfalls eine meditative und damit psychologische.
Ich möchte noch anmerken, dass ich jetzt nur versucht habe, deine Fragen zu beantworten, mir aber bewusst bin, dass damit noch gar nichts entschieden ist, eigentlich noch gar nicht jedes Problem angesprochen. Die Sache ist eben sehr, sehr kompliziert. Ich hoffe aber, dir wenigstens einen Zugang zum philosophischen Standpunkt gelegt zu haben. Nachfragen kannst du ja immer.
Herzliche Grüße
Thomas Miller