Hallo,
Vorgestern in der NZZ las ich einen schönen Text von Robert
Spaemann
(http://www.nzz.ch/2005/12/17/li/articleDDBED.print.html),
fast eine Predigt über Scheu und Scham. Viele hochmoralischen
Gedanken, gut geschrieben. Z.B. am Ende steht:
„Scham ist ein natürliches Gefühl, das sich einstellt, wenn
jemand konfrontiert wird mit der Tatsache, dass er - jenseits
und vor allem Wollen - nicht der ist, der er gern wäre, zu
sein glaubte oder zu sein vorgibt. Dass er nicht Herr im
eigenen Haus ist, diese Entdeckung ist objektiv eine
Beschämung des Menschen. Der Mensch erlebt das nicht als
Normalität, freilich auch nicht als Schuld. Die Lehre von den
Folgen der Erbsünde wird dem tatsächlichen Phänomen viel eher
gerecht. Sich schämen können heisst an seiner Selbstachtung
festhalten, ohne sich zu belügen und ohne in Zynismus zu
verfallen. Scheu und Scham sind die zarten Wurzeln der
Menschlichkeit. Eine Ethik, die das richtige Leben als eine
Technologie selbstloser Optimierung der Welt versteht, reisst
diese Wurzeln ebenso aus wie der Zynismus skrupelloser
Selbstbehauptung. - Man muss sich selbst lieben, um sich
schämen zu können.“
Der Text ist tatsächlich eine Predigt.
Neben der Form gibt es jedoch auch inhaltlich eher mythisch-religiöse Implikationen, nicht nur die Beispiele aus der Bibel, sondern zumal das Erbsünde-Motiv, über das sich kaum philosophisch streiten lässt.
Folgende Bemerkungen dazu:
Spaemanns Bestimmung: „Die Scham … bezieht sich darauf, dass ich das, was ich tat, tun konnte“ steht, trotz einiger Überschneidungen, in gewissem Gegensatz zu einer anderen, m.E. entwickelteren, Philosophie der Scham, nämlich der von Günther Anders. Danach ist die Scham weniger ethisch, auf das menschliche Handeln bezogen, sondern entsteht im entwicklungsgeschichtlichen Kontext der Ich-Erfahrung des Kindes (Das Kind schämt sich, plötzlich als ein von der Mutter isoliertes Ich angesprochen zu werden und „verkriecht sich unter die Röcke der Mutter“) und bezieht sich dann zumal auf die natürliche Mitgift, für die man gerade nichts kann (z.B. einen Buckel zu haben).
Spaemann charakterisiert m.E. zu unreflektiert gängige (Ab-)Wertungen als „Merkmale“ der Gesellschaft („Erlebnisgesellschaft“, „hedonistischen Zivilisation“), konstatiert eine um sich greifende „Schamlosigkeit“ zumal im pekuniären (fragwürdig: „Bereicherung“ vs. ererbten „Reichtum“ der ja durch die Bereicherung der Vorfahren entstanden ist) und zumal sexuellen Bereich und neigt m.E. hierbei zur Romantisierung vergangener Epochen und anderer Kulturen.
Dabei bemüht er, dass sich „Europa auf seine Weise ausserhalb eines jahrtausendealten Menschheitskonsenses“ stelle, was nun wirklich ein schwaches Argument ist, wenn man z.B. bedenkt, dass auch Slaverei einen jahrtausendealten Menschheitskonsens dargestellt hat.
Und wenn er beklagt, dass man, wenn man „Besucher aus Ländern mit islamischer…Tradition begleitet bei ihrem Sich-Bekanntmachen mit unserer Zivilisation und auf Schritt und Tritt Schamlosigkeiten begegnet“, sollte er einmal, wie ich, zehn Tage mit einer Gruppe junger Frauen durch ein Land mit islamischer Kultur reisen und beobachten, welchen Schamlosigkeiten diese dort ausgesetzt sind, und zwar nicht durch Bilder, sondern durch lebende (männliche) Personen.
Die Passagen zu Sexualität und Liebe sind m.E. religiöser Schwulst, der dazu angetan ist, Sexualität nur zu legitimieren, wenn schon nicht katholisch als Dienerin des Zeugungsaktes, so doch als „Hingabe“ an den geliebten Partner, was immer das heißen mag, unter Herabwürdigung einer „hedonistischen“ Sexualität.
Kein Wort hier von dem jahrhundertelangen „Menschheitskonsens“, in den sich der Artikel hiermit einreiht, in welchem die Verteufelung von Leiblichkeit und Sexualität sich als vorzügliches Instrument erwies, die Menschen zu unterdrücken und in Unfreiheit zu halten. Das bezieht sich allerdings nicht auf die Herrschenden. Kein Wort auch bei der sicher berechtigten Kritik an der ausufernden Schamlosigkeit heute davon, dass diese bekanntermaßen immer schon schamlos waren.
Grüße
oranier