Hallöle.
mich beschäftigt die Frage, inwiefern es eine Aufgabe des Staates - :in diesem Fall, da wir von einer steuerfinanzierten Leistung sprechen, der Allgemeinheit - ist, ein Kind zu versorgen (nicht: im Notfall zu unterstützen!).
Oder anders gefragt: Inwiefern ist es eurer Meinung nach gerechtfertigt, wenn man von potentiellen Eltern fordert, sie sollten sich ein Kind „leisten“ können? Ist es moralisch verwerflich, Negativanreize zu setzen, um staatlich finanzierte Kinder zu ‚verhindern‘ (z.B. das Elterngeld für ALGII-Empfänger zu streichen)?
Du wirfst hier ein prinzipielles gesellschaftliches Problem auf.
Es gibt auf deutschem Boden 2 Sichtweisen hierzu. Es gibt die westdeutsche, die individualistisch, egoistisch und Kindern gegenüber ablehnend, mitunter richtig kinderfeindlich ist. Und es gibt die ostdeutsche, die kollektiv, kinderfreundlich und gesellschaftlich ist.
Meine Frau und ich haben 5 Kinder, die alle in der DDR geboren, erzogen und schulisch ausgebildet wurden. (Die jüngeren konnten jedoch Schule, Ausbildung oder Studium nicht mehr zu DDR-Zeiten beenden.)
Deswegen ziehe ich meine Biographie heran, um Dir eine kinderfreundliche Alternative zu zeigen.
In der DDR gab es eigentlich kein Kindergeld. Erst unter Honecker wurde ein Kindergeld von 20 Mark ausgezahlt, im Laufe der 80er erhielten kinderreiche Familien mehr.
In der DDR gab es kein Erziehungsgeld.
In der DDR gab es kein Elterngeld.
In der DDR gab es im Gegenzug Geburtsprämien. Ich weiß es nicht mehr genau, doch für unser 1. Kind erhielten wir glaube ich 1000 Mark und für das 2. Kind lag die Prämie glaube ich bei 1500 Mark. Die beiden Kinder sind absolute Wunschkinder gewesen und kamen mitten im Hochschulstudium.
Wir heirateten früh (mitten im Studium) und erhielten daher ein zinsloses Familiendarlehen von 5000 Mark.
Wenn übrigens die Konservativen heute behaupten, in der DDR hätten viele nur Kinder bekommen, um die staatlichen Hilfen durch die Kinder zu ergattern, zu mindern oder eine Wohnung zu erhalten, widerspreche ich hier entschieden. Wir haben Kinder bekommen, weil wir wußten, daß wir für die Kinder sorgen konnten, daß die Einmalhilfen finanzielle Schwierigkeiten milderten und daß wir wegen der Kinder nicht verarmen würden. Der psychologische Mechanismus war also andersrum. Man konnte viele Kinder haben, arbeiten gehen und die Emanzipation der Frau sorgte für finanzielle Unabhängigkeit vom Mann.
Gesellschaftlich kommen wir aus der Arbeiterklasse. Ich bin ein klassisches Arbeiterkind, meine Frau auch. Das besondere Schulsystem der DDR ermöglichte es uns, in prestigeträchtige Akademikerberufe aufzusteigen, ohne durch Schwierigkeiten unserer Herkunft (arm, kein Vermögen, Arbeitermilieu) eingeengt oder benachteiligt worden zu sein. Ich bin Diplom-Ingenieur geworden, meine Frau ist Diplom-Chemieingenieur.
Eine absolut entscheidende Randbedingung für unser dauerhaftes Familienglück mit unseren vielen Kindern war das staatliche Bildungssystem. Wenn heutzutage Dinge wie die Krippen, die dreijährige Vorschule („Kindergarten“), die einheitliche Gemeinschaftsschule usw. in den Vordergrund gerückt werden, ist das natürlich richtig, aber nur die halbe Wahrheit. Sachverhalte wie z.B. die enorme Wichtigkeit der Schulstruktur im Schulalltag, die Unterrichtskultur, die Lernkultur, die traditionelle deutsche Erziehung nach preußischen Werten etc. betreffen vor allem die Kinder. Sie spielen aber für die Eltern so gut wie keine Rolle.
Für uns Eltern machten 2 andere Eigenschaften des Bildungssystems den Unterschied:
- Das Bildungssystem beanspruchte das Potential, alle gesellschaftlichen Prozesse gestalten zu können.
Warum soll das für die Familie und die Kindererziehung wichtig sein?
Nun, die DDR-Schule wurde 1946 aus einem Guß geschmiedet und von der reinen Bildungseinrichtung in eine Erziehungseinrichtung umgebaut. Nicht mehr halbtägliche Lehranstalt, sondern Lebensraum, wo Kinder während des Tages in einem guten Umfeld Bildung, Erziehung, Sport, Spielen und Freizeit erleben durften.
In der DDR herrschte ein erzieherischer Konsens zwischen Staat und Eltern. Die Eltern wußten, daß die Kinder in den staatlichen Einrichtungen ordentlich erzogen wurden, daß geschätzte familiäre Werte wie z.B. Ordnung, Hilfsbereitschaft usw. dem sozialistischen Menschenbild entsprachen und der Staat die Erziehungsarbeit bereitwillig fortsetzte. Wenn wir früh auf Arbeit gingen, wußten wir, daß unsere Kinder so gut behütet waren wie zuhause, daß sich gekümmert wurde um die Kleinen und daß die Kinder ihren Tag in einer intellektuell und zwischenmenschlich stimulierenden Umgebung genießen konnten. Vormittags die volle Breitseite Schule, danach Mittagessen aus der Schulküche (es wurde tagtäglich frisch und vor Ort gekocht und gegessen), Mittagsruhe im Hort, Vesper nach der Mittagsruhe, Hausaufgabenmachen, Freizeit und Spielen beziehungsweise Kindersport und organisierte Nachmittagsbetreuung im Hort. Wenn die Kinder älter wurden, intensivierte sich die intellektuelle Förderung und die Kinder könnten ihre Neigungen, Interessen und Talente in vielen Interessenszirkeln, Arbeitsgemeinschaften, Schulsportgemeinschaften etc. ausleben. Die FDJ ermöglichte des öfteren Ausflüge in Museen, Sternwarten, zoologische Gärten usf…
Kurzum, keine Kinderverwahrung, keine erzwungene Unterrichtsdehnung in den Nachmittag, sondern eine freiwillige, kostenlose Tagesschule von hoher Qualität.
Des weiteren unterstützte und kontrollierte der Staat die armen Familien in Erziehungsfragen und versuchte, wenn nötig, positiv auf den familiären Hintergrund einzuwirken. Die Lehrer und Erzieher nahmen diese Aufgaben wahr. Und auch den Betrieben wurde ein familienorientiertes Handeln verordnet.
- Das Bildungssystem war de facto völlig kostenlos.
Die Krippe kostete 27,50 Mark pro Kind pro Monat. (voller Tag, 6-18 Uhr)
Der Kindergarten war kostenlos.
Die Schule war kostenlos.
Der Schulhort war kostenlos.
(Die geringen Beträge für Essengeld und Kuchengeld hatten symbolischen Charakter.)
Die Schüler der erweiterten Oberschule erhielten monatliches Schulgeld für den Besuch der 11. und 12. Klasse.
Das Studium war kostenlos. Alle Studenten erhielten Grundstipendien. Darüber hinaus konnten zusätzlich Leistungsstipendien und Forschungsstipendien errungen werden.
Der Unterschied im Sozialstaatswesen der DDR im Vergleich mit der BRD war, daß in der DDR für staatliche Leistungen, Gegenleistungen erbracht werden mußten, vor allem Arbeitswille und sittliches Benehmen.
Der sozialistische Deal hieß: Der Staat gibt den Eltern kein Geld, sondern das Bildungssystem ist kostenlos.
Wenn ich im Alltag die Asozialen sehe, die ihr weniges Geld verrauchen und versaufen, und wo ich weiß, daß HARTZ-IV-Erhöhungen, Kindergelderhöhungen et cetera in noch mehr Alkohol und Tabak umgesetzt werden, nein. Das ist keine Arbeiterklasse (=arm, kein Vermögen, Bildung und Ausbildung ist gut und erstrebenswert), das ist tatsächlich Unterschicht (=arm, kein Vermögen, Bildung und Ausbildung ist egal). Was sich die BRD hier züchtet, ist eine Katastrophe und das Gegenteil von gesellschaftlicher Solidarität oder gutem Sozialstaat.
Deswegen:
Niemand braucht so einen Unfug wie Elterngeld. Die Schulen hingegen sollten wieder Schulküchen betreiben und den Kindern täglich frisches, gesundes Essen austeilen. Gleiches gilt für die Kinderkrippen und Kindergärten. Die Schulen müssen wohnortnah sein, so daß die Schulwege kurz sind und die Schülerviehtransporte mit dem ÖPNV überflüssig werden.
Rückschluß zu Deiner Frage:
Möglichkeit 1
Konservatives Familienbild mit Hervorhebung der Rolle der Eltern, Stärkung der Eigenverantwortung, Erziehung = isoliert von der Gesellschaft, Verneinung einer Rechenschaftspflicht der Eltern gegenüber der Gesellschaft, keine Staatseingriffe
genau dann, wenn
ich eine Gesellschaft mit fester Schichtung will, eine Gesellschaft in der sich unterschiedliche Interessengruppen gegeneinander abgrenzen, sich gegenseitig in die Pfanne hauen und in der die Volkskrankheit übersteigerter Individualismus heißt, eine Gesellschaft die in der Tendenz spaltet statt versöhnt („ich, ich, ich“).
Möglichkeit 2
Progressives Familienbild, wo sich zum primären Erziehungsmoment der Eltern der Staat gesellt, das Erziehung und Bildung in eine Aufgabe, Pflicht und Ehre aller Bürger gleichermaßen erhebt, das Rechenschaft von den Eltern verlangt (Pflicht zur guten Kindeserziehung) und wo armen Familien konstruktiv durch staatliche Eingriffe geholfen wird
genau dann, wenn
ich eine Gesellschaft möchte, die in der Tendenz eher zusammensteht und nicht in verfeindete Interessensgruppen zerbricht, eine Gesellschaft die die Schule modernisiert und dort wie auf einem Marktplatz ihre Ressourcen allen Kindern zur Verfügung stellt, um gesellschaftlichen Ausgleich zu ermöglichen, eine Gesellschaft die kollektiver handelt und noch mehr vom Leben weiß als immer „ich, ich, ich“, eine Gesellschaft die reformfreudiger, revolutionsbereiter, entscheidungsfähiger ist und auch gewaltige Aufgaben lösen kann.
Du solltest Dich demzufolge lieber fragen:
In welcher Gesellschaft möchte ich leben?
Die Antwort darauf beantwortet Dir zwangsläufig die Frage nach der Rolle des Staates.
Grüße vom reinerlein