Grauen als Faszinosum
Hi Thomas
nein, mit Dummheit hat das nichts zu tun.
Da gebe ich dir völlig recht. Die Faszination des Grauens, die ja auch den Grundgedanken in Francis Coppola’s Apocalyse Now lieferte, hat nichts mit Dummheit zu tun (auch wenn man diese nicht als Mangel an Urteilsvermögen auffaßt). Allerdings ist es eine Frage der Fähigkeit, die Motive des eigenen Denkens sensibel zu reflektieren, ob man das Wie und Warum dieser Faszination durchschaut - einfach ist es nicht, denn dieses Durchschauen ist durch extrem sanktionierende gesellschaftliche Tabus bzw ethische Grundsätze mit Stahltüren verriegelt - sprich: aus der Kommunikabilität des Alltagslebens verdrängt. Es gehört Mut im Denken dazu, diese Absicherung zu druchbrechen.
Hier aber handelt es sich um den klassischen Effekt der Katharsis, der :Reinigung durch das Aushalten des Schauderns, den schon Aristoteles in :seiner Poetik als Grund dafür angegeben hat, warum man im Theater :Tragödien anschaut. 1853 hat Karl Rosenkranz in seiner „Ästhetik des :Hässlichen“ das Phänomen noch dezidierter aufgegriffen.
Das glaube ich allerdings nicht. Die aristotelische Katharsis hat das Theater, die (Re-)Inszenierung in der virtuellen Realität, in der Welt der Bühne zur Voraussetzung. Dabei geht es um das begreifende Durchschauen (auch das Sich-selbst-Durchschauen) mit dem Mittel der gestalteten Reproduktion der Realität, worin Erkenntnismöglichkeit liegt. Der Oidipous Tyrannos des Sophokles ist ja das Paradestück dafür und auch das Theaterstück, das Hamlet durch seine Freunde im Schloß aufführen läßt, hat diesen Zweck der Entlarvung derer, die ihre Schuld zu verbergen suchen.
Bei der Faszination des Grauens - nach der ja im Posting gefragt war - geht es aber um die unmittelbare Teilnahme (Methexis) an der Tatsächlichkeit des Grauens (Folter, Tod, Zerstörung), nicht der vermittelten. Insofern ist das etwas anderes, und zwar mehr als nur eine ganz andere Dimension der Intensität, als die, die beim Anschauen von Gewalt in filmischen Inszenierungen eine Rolle spielt. Dort fehlt ja gerade das Entscheidende, weil es gar nicht inszeniert werden kann.
Davon gibt es nicht nur eine Seite, sondern hunderte …
Ja, und diese rotten pages werden heimlich (aber eifrig) durchwühlt, wenn der Rest der family nichts davon erfährt … und es wird nur unter vorgehaltener Hand geoutet - eben weil die gleichsam unmittelbare Teilhabe am Geschehen ansonsten so stark tabuisiert ist.
So selbstverständlich diese Tabuisierung auch gesellschaftlich notwendig ist: Warum dennoch eine so große Anziehungskraft darin liegt, ist sehr wohl erklärbar, allerdings würde die Publikation der Erklärung selbst wiederum dasselbe Tabu brechen (wie es ja bei Apocalypse Now geschehen ist, ob dieser Film nur die These aufstellt, nicht aber die Erklärung liefert): Es gibt halt Wahrheiten über die Natur des Menschen, die nicht öffentlich „gewußt“ werden dürfen.
Aber wenn z.B. eine öffentliche Hinrichtung, die ja zumindest systemimmanent legitimiert ist, schon mal anliegt, dann ist Tabubruch kanalisiert - ebenso wie die Einrichtung der KZs Wege für ganz individuelle persönliche Sadismen freimachte: Die Äußerung „ich habe nur Befehle ausgeführt“ läßt sich ja leicht in dieser Richtung in psychologisch stimmigeren Klartext übersetzen. Dasselbe gilt für das Hinschauen bei Unfällen oder Katastrophen: „Man kann ja nicht dafür, wenn man schon mal zufällig da ist“ …
Schmerz, Tod, Vernichtung hat wie alles Heilige zwei Momente, die untrennbar sind: Die Faszination - und den Schrecken. D.h. die überflutende Faszination ist ebenso grauenhaft, wie das überflutende Grauen faszininierend. De Sade - wie überhaupt das ganze Gebiet des Sadomasochismus - ist ein Beispiel dafür, Schillers „Das verschleierte Bild zu Sais“ ein anderes …
Gruß
Metapher