Seiendes und Benanntes
Hi Marco
Nun gibt es auch so Redewendungen wie „Das pure Böse.“ oder so ähnlich.
Ganz recht. In der Umganssprache bzw. im Alltagsdenken findet man eine Unmenge von Redeweisen, Denkweisen, die - ohne daß man sich dessen bewußt ist - auf alte und älteste Etappen der Philosophiegeschichte zurückweisen - und vielfach sogar noch weiter zurück, als man das Ganze noch nicht „Philosophie“ nannte.
Wie man mit deiner wirklich spannenden Fragestellung heute (ich würde lieber sagen „zur Zeit“ und damit die philosophischen Errungenschaften des XX. Jhdts meinen) umgeht, davon wurden dir ja bereits ein paar Kostproben gegeben.
Dein Problem weist tatsächlich zurück in zwei Etappen der Philosophiegeschichte: 1. Die Platonische Erkenntnistheorie und 2. den Universalienstreit der mittelalterlichen Philosophie.
Bei Platon kommt den „realen“ Dingen kein „Sein“ zu: Sie gehören der Welt des Endlichen an, somit des Entstehens und Vergehens, des Werdens.
„Sein“ (und diesen Begriff muß man hier unterscheiden von „existieren“ und „es gibt“ und „real sein“) kommt vielmehr nur den Ideen zu. Allerdings muß man hier aufpassen, wie diese Begriffe gemeint sind: Die Ideen sind eigentlich das, was man unter „Sein“ zu verstehen hat, ein Seiendes (griech. on) ist eben eine Idee und das ist das „Wirkliche“. Von dem „Realen“ dagegen, dem Endlichen, wird nicht gesagt, daß es „sei“.
Nun benutzt Platon diese Grundlage, um zu erklären, wieso wir die „Dinge“ (die Realia) erkennen können: Wir, die Erkennenden, haben am Sein der Ideen ebenso einen (seienden) Anteil wie die erkannten oder zu erkennenden Dinge. Erkenntnisprozess ist also soetwas wie ein Sich-Wiedererkennen der Ideen: Man kann das eine „_onto_logische“ Erkenntnistheorie nennen.
Jedenfalls ist es in dieser Denkweise so, daß gewisse Begriffe überhaupt nur Ideen sind - und damit reine Seiende: Z.B. „Gerechtigkeit“, „Tugend“, „das Gute“, „das Schöne“, „das Wahre“, „die Gesundheit“ usw., aber ebenso auch Allgemeinbegriffe wie „Mensch“, „Lebewesen“ usw. (Der Begriff dafür, „Gattung“, hatte noch nicht die Bedeutung, die er später durch Aristoteles bekam). Die Realia oder Einzeldinge, denen die Eigenschaften „gerecht“, „gut“, „schön“ usw zukommen, haben diese Eigenschaft nur, weil sie an dem Sein der Ideen teilhaben.
Im Rahmen dieser Philosophie ist es also kein Problem, von „dem Guten“, auch von „dem Bösen“ (obwohl das nicht ganz platonisch ist) zu reden … ebenso von „dem Grünen“ usw … und durchaus im Sinne eines Seienden. Aber wie gesagt: Vorsicht! Das, was man unter „seiend“ zu verstehen hat, ist umgekehrt erst dadurch bestimmt.
In der späteren sog. Gnosis wird dieser Gedanke noch fortgeführt: Hier ist der Bestand bzw. die Entwicklung der realen Welt und ihre Geschichte überhaupt ein Resultat des eigentlichen (seienden) Geschehens: Der Kampf zwischen dem Guten (bzw. Licht) und dem Bösen (bzw. Finsternis).
Im sog. Universalienstreit (zwischen Realismus und Nominalismus) ging es ebenfalls um diese Frage, ob den Allgemeinbegriffen ebenso Sein zukomme, wei den realen Dingen (daher „Realismus“), oder ob sie bloße Bezeichnungen (Nominationen, daher Nominalismus) seien, mit denen es möglich wird, über Gattungen, Spezies, oder Mengen von realen Dingen zu sprechen.
Genaueres darüber findest du z.B. hier:
http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/str…
Wenn also heute jemand sagt, „das Gute, Schöne usw ist“, „es gibt Gerechtigkeit“, „es gibt Freiheit“, und er damit nicht abstrahierend von (erhofften oder vorhandenen) Eigenschaften einzelner Situationen oder Dingen spricht, dann könnte man sagen, daß er im klassischen Universalienstreit den Standpunkt des Realismus einnehme.
Ebenso kann man das an Fragen festmachen, wie sie zB in der Philosophie der Mathematik oder in der Philosophie der Psychologie gestellt werden können: Der Realismus-Standpunkt würde sagen, der Mathematiker „findet“ oder „entdeckt“ mathematische Strukturen (sie „sind“ also), oder Freud habe mit dem Unbewußten eine „Entdeckung“ gemacht (d.h. „es gibt“ das Unbewußte). Der Nominalismus-Standpunkt würde dagegen sagen, der Mathematiker „erfindet“ Strukturen, und Freud habe mit dem Unbewußten einen Begriff „erfunden“ bzw. „eingeführt“.
So etwa stellt sich deine Frage vom Blickpunkt älterer philosophischer Bemühungen aus - und da hat sie auch ihren Ursprung.
Gruß
Metapher