Hallo Sina,
Denk dir einfach es ist bei euch im Freundeskreis üblich dass
man Überraschungsbesuche macht und dass Freunde andere Freunde
einfach mitbringen können ohne großartig zu planen. Nun seid
ihr also beim Essen, und diese Freundesgruppe taucht auf, das
Essen an sich reicht aber Robert muss abweisen weil er das
nicht essen kann.
Denkt man sich also in so einem Fall wie unhöflich wenn er
schon in ein christliches Haus reinkommt als Besucher dann
isst er auch das was auf den Tisch kommt oder nicht?
Ich bin nach wie vor der Meinung, dass er das dennoch hätte vorher ankündigen sollen. Davon abgesehen: Solange es ihn nicht stört, hungrig davonzukommen und ich nicht in Verlegenheit komme, noch schnell für ihn irgendwas „erfinden“ zu müssen (und in diese Verlegenheit komme ich, wenn er z.B. der einzige Gast ist, auf jeden Fall), weil sich eh eine größere Gruppe versammelt hat, ok. Aber ich kann mir auch schlecht vorstellen, dass da plötzlich eine Gruppe reinplatzt und erwartet, dass sich bei mir schon für alle was zu essen finden lässt. Da bringt man doch normalerweise auch selbst etwas mit.
Ich mein
im Falle des Händeschüttelns hätte er ja nach deiner Logik
mitmachen müssen.
Hier läuft die Kommunikation bzw. der Ausdruck von Respekt ausschließlich zwischen zwei Einzelpersonen ab.
Jemand hatte
vorgeschlagen, dass derjenige VORHER aufklären müsste damits
nicht peinlich für die andere Person wird. Aber hättest du
denn anders empfunden wenn Robert vorher bevor du zum
ABschiedsgruß angesetzt hättest gesagt hätte: Du ich sage es
lieber vorher, ich gebe den Frauen nicht meine Hand weil…
Dann wärst du genauso vor dem Kopf gestoßen. Zumindest hättest
du nicht anders empfunden und das anschließende Gespräch mit
der jüdischen Freundin hätte trotzdem stattgefunden.
Wie gesagt, ich war nicht diejenige, die in diese Situation gekommen ist. Erfahren habe ich davon, als ich mit Michael und der besagten Freundin im Café saß, nachdem wir uns den Film „Ein ganz gewöhnlicher Jude“ angeschaut hatten. Wir haben uns über den Film unterhalten, darüber, ob er realitätsnah sei, über die dargestellten verschiedenen Lebensphasen des Hauptdarstellers, seine Selbstidentifikation und, und, und. Da hat dann irgendwann Michael dieses Beispiel gebracht, weil es so gut gepasst hatte.
Aber gesetz der Fall, ich hätte diese Situation selbst erlebt: Hätte Robert mich „vorgewarnt“, hätte es diesen (brüskierenden) „Überraschungseffekt“ (ich strecke ihm schon meine Hand entgegen und dann nimmt er nicht an) nicht gegeben. Hätte er dazu noch den Hintergrund des Gesetzes erklärt, hätte es u.U. sogar zu einem anregenden Gespräch mit ihm kommen können und ich hätte etwas dazu gelernt. Ich persönlich habe durchaus die Erfahrung gemacht, dass Menschen wesentlich verständnisvoller reagieren, wenn man ihnen den Hintergrund einer (kulturellen, religiösen, gesundheitsbedingten, weltbildbedingten etc.) Handlungsweise erklärt, anstatt sie mit einem „das mache ich eben so“ oder „das ist eben in meiner Religion so vorgeschrieben“ abzuspeisen.
Egal was der andere macht um die Peinlichkeiten zu minimieren
wenn Menschen denken er müsse sich anpassen dann denken die
das, dann kann der andere auch diese Menschen mit keinem
Zuvorkommen auch „gut“ stimmen.
Ich muss nicht verstehen, warum jemand glaubt, mit der einen oder anderen Handlung Gott zu dienen. Ich muss noch nicht einmal an Gott glauben. Ich kann dennoch bestimmte Gebräuche akzeptieren. Ich unterhalte mich gern mit der besagten Freundin über jüdische Bräuche und religiöse Vorschriften. Manchen kann ich für mich selbst etwas abgewinnen, andere finde ich einfach nur interessant (z.B. neue Sichtweisen), wieder andere sind in meinen Augen unsinnig. Aber es ist ihr Leben, ihr Glaube, und das habe ich zu akzeptieren. Allerdings ergibt sich ein solch anregender Dialog doch nur, wenn beide Seiten ein Stück aufeinander zugehen. Ich weiß, dass wenn ich an Shabbath etwas mit ihr unternehmen sollte, ich sie z.B. nicht fotografieren „darf“. Das habe ich einmal falsch gemacht, sie war mir nicht böse, hat mir aber hinterher in Ruhe erklärt, dass sie das unangenehm findet und warum das so sei. Wiederum: Ich kann das für mich unsinnig finden, den Hintergrund fand ich sehr interessant und dass sie es nicht möchte, habe ich zu akzeptieren. Hätte sie empört reagiert und mir einfach nur an den Kopf geworfen, dass ich das nicht darf, hätte ich nur verständnislos mit dem Kopf geschüttelt.
Deshalb fand ich es ganz interessant dass „eine andere
jüdische Freundin“ aus deinem Beispiel ja der selben Meinung
wie du war…anscheinend habt ihr sobald Robert weg war über
sein „unmögliches“ Verhalten „abgelästert“.
Ebenso, wie sein Verhalten hier diskutiert wird, haben wir es
auch diskutiert. Mitnichten ging es ums Lästern. Für mich war
es interessant, wie sie - die ja derselben Religion angehört -
diese Sache sieht, also ob sie sich an seiner Stelle genauso
wie Robert verhalten hätte und wie sie das wertet. Übrigens
hatte ich erwartet, dass sie sein Verhalten richtig finden
würde und war sehr erstaunt, als sie meinte, ihrer Ansicht
nach zeuge das ebenfalls von Unhöflichkeit.
Ja und warum nimmts du aus diesem Gespräch dann nicht
wenigstens etwas mit?
Tu ich doch.
Die Tatsache zb dass es keine Frage von
Religionszugehörigkeit ist und deshalb auch das Nahelegen
einer Auswanderung völlig fehl am Platze ist?
Das Verhalten von Robert hat dieser mit Religion erklärt. Dass Unhöflichkeit nicht religionsspezifisch ist, dürfte hingegen allgemein bekannt sein. Das war aber auch nicht die Frage.
Und im Übrigen sind mir seine Beweggründe, hier zu bleiben, noch immer nicht klar. Ganz ehrlich: Er ist nicht hier in Deutschland geboren, hat also keine feste Bindung zu diesem Land. Die Gemeinde orthodoxer Juden ist hier in Deutschland im Vergleich zu Israel sehr klein. Arbeit zu finden dürfte ihm sehr schwer fallen, weil er den Shabbath und bestimmte religiöse Feiertage einhalten muss - das wäre in Israel kein Problem. Was bleibt also? Wirtschaftliche und militärische Sicherheit?
Wenn du Diskussionen anhand von Fallbeispielen grundsätzlich
als Lästern abtust, dann dürfte man sie ja ausschließlich auf
einer sehr theoretischen, nicht alltagsbezogenen Ebeneführen.
Darf man sich also nur an Informationen aus Zeitungen
orientieren und nicht an persönlich Erlebtem? Oder ist selbst das
schon wieder Lästerei?
Lästern ist es wenn man mit Dritten die ganz genau wissen wen
man meint über diese gemeinte Person schlecht redet.
Wieso schlecht redet? Wie gesagt, es hat sich vom Thema her so ergeben, dass dieses Beispiel gut gepasst hat, und ich fand es interessant. Im Gegenteil, ich hatte sogar erwartet, dass sich eine kontroverse Diskussion darüber ergibt, weil ja eine orthodoxe Jüdin mit anwesend war.
Das hat auch nichts mit dem Verbot zu tun ob man sich an
Fallbeispielen orientieren darf oder nicht.
Fallbesipiele können auch so allgemein formuliert werden dass
sie nichts an ihrer Konkretheit verlieren und die Identität
der Person trotzdem nicht preisgeben.
Ich sehe keinen Sinn darin, Geheimniskrämerei zu betreiben. Dabei komme ich mir lächerlich vor. Solange es eine sachliche Diskussion und kein Lästern des Lästerns willen war, sehe ich auch kein Problem darin, das Fallbeispiel in dieser Form anzubringen und die Gefühle der beteiligten Personen (Michael, seine Freundin und Robert) zu diskutieren.
Wenn du ehrlich bist du würdest es auch nicht toll finden wenn
du hören würdest, dass zwei Leute die du vor kurzem
kennengelernt hast irgendeine Verhaltensweise von dir nicht
toll fanden (und das kann jedem passieren) dies aber hinter
deinem Rücken lieber besprochen haben als es mit dir zu
besprechen.
Wenn ich schon in dem Moment, in dem ich mich so verhalten habe, genau gewusst habe, dass ich die Leute damit brüskiere und dennoch so handelte, ohne ihnen die Hintergründe zu erklären, bin ich auch nicht an ihrer Freundschaft interessiert. Die Möglichkeit, die Situation klarzustellen, hatte ich doch schon. Wenn ich aber keinen Wert auf die Freundschaft und auf die Meinung dieser Leute lege, ist es mir egal, ob sie mein Verhalten untereinander diskutieren oder nicht. Erst recht zeigt sich das, wenn ich auch hinterher keine Bemühungen mache, den Kontakt zu diesen Menschen zu halten und eine Freundschaft aufzubauen.
Gruß,
Anja