Das Reale und die Jouissance
Hi Candide.
Die symbolische Struktur bleibt damit ungeschlossen und ermöglicht so die „irrationalen“ Effekte des Realen im Erleben des Subjekts.
Damit ist aber doch notwendig „das Reale“ als ein Effekt des Symbolischen zu verstehen … Für mich ist das eine Schlüsselfrage - gerade auch der Diskussionen zwischen uns beiden: Bringt „das Reale“ das Symbolische in Gang oder ist „das Reale“ ein Effekt des Symbolischen?
Eben beides. Und noch mehr.
Das Problem liegt, wie ich schon andeutete, in der relativen Vagheit des Begriffs des Realen, der von Lacan entwickelt und von Zizek weiterentwickelt wurde, ohne dass bisher mehr dabei herauskam als eine überaus bedeutsame Grundlegung nebst einigen sehr bedeutsamen Spezifizierungen. Nach wie vor gilt aber: das Reale ist ein Unbegreifliches, das sich „nur zeigt“. Es hat weder Substanz noch Form noch Identität, es hat gar kein Sein, sondern ist nur ein Effekt.
Und zwar ein Effekt jener Kombination von Körper, Begehren und Symbolischer Ordnung, die wir „Subjekt“ nennen.
Zugleich ist es transzendent und immanent, das durch Ausschließung Eingeschlossene – der Widerspruch par excellence.
Es ist sicher nicht abwegig, das Lacan´sche Reale mit dem Kantischen Ding-an-sich zu vergleichen, ja beide haben einen ähnlichen theorieinternen Status. Bekanntlich ist jenes Ding-an-sich unerkennbar, „affiziert“ aber unsere Sinne und bringt so erst die Konstitution der „Realität“ (sprachlich konstruierte Wirklichkeit) in Gang. Zugleich bleibt es unfasslich, so dass Realität notwendig symbolisch-imaginär verkürzt erscheint – oder mit Kant: konstruiert durch die Projektion der Anschauungsformen, Kategorien, Schemata und der „synthetischen Einheit der Apperzeption“ auf das Chaos der Sinnesdaten.
Für Lacan wie für Kant gilt also: unserem Bewusstsein sind nur Phänomene zugänglich, die kein absolutes Sein haben. Während Kant außerhalb des Bewusstseins eine Sphäre des An-sich vermutet, reduziert sich bei Lacan (meines Wissens) der Status des Realen auf eine Art „Schnittstelle“ zwischen dem Außerhalb und Innerhalb des Subjekts. Es ist die Ursache der Unterscheidung von Schein und Sein, d.h. das Subjekt erfährt die symbolisch strukturierte „Realität“ als fragwürdig aufgrund des Realen, das die Geschlossenheit der symbolischen Struktur immer wieder aufbricht, genauer: das dieser Bruch der Geschlossenheit i s t. Das Symbolisierte wird doppeldeutig und scheint zwei Dimensionen zu haben, eine evidente (Schein) und eine verborgene (Sein).
Das ist vergleichbar mit einer Theateraufführung, die beim Publikum die Illusion von Realität hervorruft, bis plötzlich ein Darsteller den Text vergisst („Einbruch des Realen“). Sofort wird die Performance als Schein durchschaut und der Unterschied zum Sein offensichtlich.
Der Regress auf dieses „Sein“ hinter dem Schein zeigt aber, dass es auch hier kein authentisches Sein gibt: denn auch die „Realität“, das wahre Leben der Schauspieler, ist imaginär-symbolisch strukturiert und voller Risse und Antagonismen, die daher rühren, dass sich das „Runde“ des Begehrens nicht zum Viereck des „Symbolischen“ quadratieren lässt.
Woraus für Lacan/Zizek folgt: es gibt kein Sein hinter dem Schein. Der Schein – das Unmögliche des Symbolisierens – produziert die Effekte des Realen, die ihrerseits den Schein wieder als Schein entlarven, ohne dass dahinter ein Sein hervortritt.
Das ist die tragikomische condition humaine. Solange der transpersonale Aspekt außen vor bleibt, natürlich. Denn erst der bringt, so meine ich, eine wirklich konstruktive Perspektive ins Spiel.
Oder könnte man es (im Sinne eines Fundierungsparadoxes) so reformulieren, dass man sagt: „das Reale“ als immer-schon-Effekt des Symbolischen bringt das Symbolische fortwährend in Gang? … ist das Begehren der Mutter nicht immer auch schon unabdingbar das Begehren der Mutter - und damit (wie jedes Begehren eines Menschen) fraglos symbolisch-imaginärer Natur?
Bitte jetzt nicht mit dem Hinweis antworten, dass Lacan selbst schon mit diesem doppelten Genitiv spielte …
Keine Sorge, dafür ist das Argument zu gehaltvoll. Natürlich ist es so, dass das Kind kontinuierlich in ein soziales Schema hineinwächst, wo es dem Begehren ausgesetzt ist, den andere an es haben (vor allem die Eltern). Deine Frage scheint zu sein, ob sich allein daraus das Begehren des Kindes konstituiert.
Innerhalb des Lacan´schen Universum wäre als Ausgangsbasis vor allem das „Ding“ (la chose) zu nennen, das Lacan in den 50s einführte, aber nicht übermäßig oft verwendete. Der Begriff ist, wie auch das Reale, bei Lacan wenig konturiert, verweist aber allerhöchstwahrscheinlich auf die ursprüngliche Mutter-Kind-Einheit während der Schwangerschaft. Das Zerreißen dieser Einheit durch die Geburt löst eine unbewusste Sehnsucht nach Wiederherstellung aus, die natürlich unmöglich ist, aber unablässig versucht wird (zunächst als imaginärer Anspruch, dann postödipal als Begehren, das auf das objet a zielt).
Auf jeden Fall sieht es so aus, als lägen die Anfänge des Begehrens nicht im Begehren der Mutter auf der Ebene der Mutter-Kind-Dyade, sondern der viel ursprünglicheren Mutter-Kind-Einheit.
Womit das „Objekt“ des Begehrens in einer Sehnsucht nach Einheit/Ganzheit fundiert wäre und nicht nach einem externen Objekt. Die Transpersonale Psychologie interpretiert eine solchen (natürlich unbewusste) Sehnsucht als präpersonale Variante des transpersonalen Strebens nach spiritueller Einheit/Ganzheit (d.h. Überwindung aller Dualismen).
Um auf das Reale zurückzukommen: Begehren / jouissance / das Reale scheinen eine festverbundene Kategoriengruppe zu bilden, wobei der mittlere Begriff die äußeren vermittelt. Begehren führt zu jouissance, der temporären Aufhebung der Subjektspaltung in z.B. der Ekstase, worin sich aber das Reale manifestiert.
Ich will das jetzt mal für heute so stehen lassen. Du wirst sicher ein paar inspirierende Gedanken zu dem Thema beisteuern.
Die Form, in der diese Wirklichkeit individuell erfahren wurde und wird, ist natürlich immer auch von symbolisch-imäginären Strukturen im Subjekt mitbestimmt.
Ok, dieses Argument kenne ich beispielsweise auch von Wilber schon. Es überzeugt mich einfach nicht, weil es eine Art Form-Inhalt-Dualismus voraussetzt, der nicht weiter begründet wird.
Dieser Dualismus ist ein empirischer, kein konstruierter. Es gibt auch in höheren Bewusstseinszuständen spezifische „Objekte“, erst im höchsten, dem nondualen, kommt es zur Aufhebung des Dualismus, der Durchdringung von Form und Leere. Ich gehe genauer ein andermal darauf ein, da dieses Thema die Referenz auf sehr spezielle Quellen (mystische Literatur) erfordert.
Anders gesagt: Wenn unhintergehbar ist, dass ich ein „Transzendenzerlebnis“ nur in symbolisch strukturierten „Anschauungsformen“ (unkantisch gemeint!) erleben und berichten kann, warum muss ich mich dann darauf versteifen, dass ein letztlich unbestimmbarer „Inhalt“ dahintersteht, der diesen „Formen“ vorgelagert ist?
In den symbolisch-imaginären Szenen der subtilen Erfahrung (wie z.B. in Teresas mit christlichen Metaphern durchsetzter Vision) manifestiert sich formlose Energie. Form und „Inhalt“ (die Energie) sind nicht getrennt zu denken, sie sind identisch. Da aber besagte „Energie“ universal ist (sie ist überall und immer, also unbegrenzt), fundiert sie alle singulären Formen.
Was heißt, dass es keine singulären Identitäten gibt. Und was heißt, dass alle Formen von einer Energie „geformt“ sind. Da es nun keine Identitäten gibt, gibt es keine Essenz, kein Wesen, keine Substanz der einzelnen Form (kein „Selbstsein“ der Dinge). Das meint die buddhistische Formel „Form ist Leere, Leere ist Form“.
Mit „Leere“ ist dabei nur das Nichtsein von Identität, Wesen, Substanz gemeint. Nicht aber ein Nichts.
Mal anders akzentuiert, damit ich das vielleicht verstehen kann: Was beispielsweise an einer LSD-Erfahrung weist denn mehr über den „Rahmen des Symbolischen und Imaginären“ hinaus als eine Erfahrung des Alltagslebens?
Das kommt auf die LSD-Erfahrung an. Manche realisieren auf diese Weise ein „Kosmisches Bewusstsein“, andere nicht. Ich hatte das Glück, mehrmals auf diese Ebene zu gelangen. Es ist eine temporäre Aufhebung der subjektinteren Spaltung mit dem Effekt einer unglaublichen jouissance.
Bis demnächst
Horst