Moin Ralf,
Zum Glück müssen wir Gewalt nicht selbst definieren. Ich
denke, es besteht kein Zweifel, dass Gewalt Leid erzeugt. Das
Erzeugen von Leid ist aber keine heilsame Handlung.Dieses Argument verlagert mE das Problem lediglich auf eine
dann notwendig werdende Definition von „Erzeugen von Leid“.
Jemandem ein Bein abzuhacken, erzeugt zweifellos Leid. Wenn
man ‚Gewalt‘ objektiv definieren will, fällt ein solches
Handeln sicher auch unter ‚Gewalt‘. Die entscheidende Frage
ist aber doch, ob der Betroffene damit getötet oder
verstümmelt werden soll oder man ihn mit einer Amputation vor
dem Tod durch Wundbrand bewahren will. In letzterem Fall wäre
eine solche Handlung zwar leiderzeugend, aber (falls
erfolgreich) auch heilsam.
Das ist richtig, lenkt aber meiner Meinung nach vom Thema ab. Nicht von ungefähr muss man vor jeder OP eine Einwilligung zur OP geben, sofern diese aufgrund der Umstände eingeholt werden kann. Ich denke nicht, dass man in solchen Fällen von Gewalt sprechen kann, da dies nicht gegen den Willen des anderen durchgeführt wird, bzw. man, wenn der andere nicht in der Lage ist, sich zu äußérn, so entscheidet, wie man meint, dass sich auch der andere entscheiden würde, wenn er dazu in der Lage wäre.
Ich würde eine ähnliche Situation bei der Euthanasie-Debatte sehen. Wie steht der Buddhismus dazu, Leben zu nehmen, wenn diese vom anderen ausdrücklich gewünscht wird? Ich denke aber nicht, dass man das mit einer Situation vergleichen kann, in der jemand gegen seinen Willen getötet werden soll.
Aus diesem Grund ist nach buddhistischer Lehre eben nicht das
objektive Handeln karmisch bedeutsam, sondern lediglich der
Wille / die Absicht, die das Handeln motiviert.
Das ist korrekt. Es bezeifelt ja niemand, dass das Töten eines Menschen in den diskutierten Fällen willentlich erfolgt. Die Frage lautet, ist dieses karmische Handeln nun heilsam oder nicht?
Das war von mir unsauber formuliert, aber Du hast mich da
grundsätzlich schon richtig verstanden. Es ist der Wille / die
Absicht, der oder die einem ethischen Urteil unterworfen
werden können. Das durch den Willen ausgelöste / motivierte
Handeln kann lediglich danach beurteilt werden, wie weit es in
Bezug auf den Willen zweckmäßig ist – geeignet, diesen Willen
umzusetzen. Das objektive Handeln für sich ist kein Gegenstand
ethischer Bewertung.
Der Wille wäre aber im konkreten Fall, einen Menschen zu töten. Damit ist das Handeln (z.B. das tatsächliche Erschießen) karmisch. Nicht karmisch wäre es nur in dem Fall, in dem ich versehentlich für den Tod eines Menschen verantwortlich bin.
Das
Problem ist nicht, ob „Töten von Lebewesen“ mit den Sila
vereinbar ist oder nicht. Das Problem ist, dass „Töten von
Lebewesen“ gar nicht zu vermeiden ist. Wenn Du Fleisch isst,
tötest Du Tiere. Wenn Du Vegetarier bist, tötest Du Pflanzen.
Wenn Du Penicillin schluckst, um eine Infektion zu bekämpfen,
tötest Du Bakterien. Wenn Du Dich wie ein frommer Jaina zu
Tode hungerst, tötest Du Dich selbst.
Was du hier schreibst ist alles richtig. Schließlich lautet der erste Satz der Lehre ja auch, dass das Leben leidvoll ist Nur gibt es tatsächlich einen Weg aus diesem Leidvollen heraus und auf diesem Weg sollen uns die Silas helfen. Ich denke jedenfalls nicht, dass die Silas so gedacht sind, dass man sich sagt, ich muss ja eh ständig Leben nehmen, dann kann ich auch mal jemanden abknallen. Ist ja eh egal (um es mal überspitzt zu formulieren).
Leben heisst, Leben nehmen. Die Sila geben Ideale vor –
Ideale, die im Samsara unerfüllbar sind, die jedoch - und das
ist das Entscheidende - über Samsara hinausweisen.
Blöd ist nur, dass wir Normalöttels keine Sicht auf das haben, was über Samsara hinausreicht. Uns bleibt also nichts anderes übrig, als uns in diesen Idealen hier und jetzt zu üben. Was sonst?
Die Praxis (sic!) der Sila ist mE sehr wohl eine Frage der
Praktikabilität – nicht im absoluten Sinne, sondern in dem
Sinne, was für Dich persönlich, hier und jetzt praktikabel
ist.
Richtig. Nur lautet das Sila, kein Leben zu nehmen. Das heißt also, egal in welcher Situation ich mich befinde, ich soll mich bemühen, kein Leben zu nehmen. In der konkreten Situation könnte dies bedeuten, dass man sich selbst zwischen Angreifer und Opfer in die Schussbahn wirft und hofft, mit dem Leben davonzukommen. Es könnte auch bedeuten, dass man versucht, auf andere Art zu intervenieren, z.B. verbal. Es könnte auch bedeuten, den Angreifer außer Gefecht zu setzen, ohne ihn zu töten etc. Über all das kann man meiner Meinung nach innerhalb der buddhistischen Lehre diskutieren, aber nicht darüber, ob das willentliche Nehmen von Leben nun mit dem ersten Sila (und somit mit buddhistischer Ethik) vereinbar ist oder nicht. Denn hier ist die Lehre eindeutig, auch wenn es uns vielleicht nicht gefällt.
Das ist DEINE Übung - nur für Dich selbst kannst Du auch
ausloten, was praktikabel ist und was nicht. Nicht für
Sebastian, nicht für mich und auch sonst für niemanden.
Richtig. Aber ich kann mich dagegen wehren, dass jemand das willentliche Töten von Menschen als mit buddhistischer Ethik vereinbar deklariert.
Ganz im Gegenteil. Meiner Meinung nach ergeben sich diese
Widersprüche nicht aus dem praktischen Handeln sondern aus der
mangelnden Einsicht. Ziel sollte es sein, seine Einsicht zu
erweitern, um die Widersprüche aufzuheben, und nicht, die
Silas aufzuweichen, um die Widersprüche aufzuheben.Womöglich hattest Du mich da falsch verstanden oder ich Dich –
ist es nicht so, dass du Sebastian eine zweifelhafte Ethik
vorwirfst?
Welche Ethik Sebastian seinem Handeln zu Grunde liegt, ist nicht der Punkt. Er soll es nur nicht buddhistische Ethik nennen, wenn es nicht buddhistischer Ethik entspricht.
Meinetwegen auch „mangelnde Einsicht“. Wie oben
schon angesprochen, sind nach meiner Auffassung Widersprüche
zwischen den Sila als Ideal und praktischem Handeln in Samsara
unausweichlich. Möglicherweise lassen sich diese Widersprüche
durch Einsicht auflösen – für Dich persönlich. Vollständig
auflösen lassen sie sich nur durch vollständige Einsicht. Gib
mir Bescheid, wenn Du soweit bist.
Und genau das unterscheidet meiner Meinung nach unseren Standpunkt von Sebastians Standpunkt. Wir sehen in diesem Fall den Widerspruch zwischen Sila und praktischem Handeln. Er hingegen glaubt, dass sein diesbezügliches Handeln im Einklang mit dem Sila steht.
Das ist nichts anderes, als wenn ich sage, dass wir so
handeln, wie wir es mit unserer buddhistischen Praxis einüben.
Jeder so gut er kann. Das „Ziel“, das Du da nennst, nennst Du
zu Recht – aber in dem Moment, wo Du handelst, nützen Dir
Deine Ziele nichts. Dann handelst Du so, wie Du bist – nicht,
wie Du sein willst.
[snip] für d’accord.
Da hast Du mit Sicherheit recht – was unser eigenes Handeln
angeht. Wenn wir uns allerdings zutrauen, das Handeln Anderer
zu beurteilen,
Es geht mir wie gesagt weniger darum, jemanden zu verurteilen, sondern darum zu klären, was buddhistische Lehre ist und was nicht.
ist das alles schon sehr viel schwieriger, da
wir dann keinen unmittelbaren Einblick in deren Motivation
haben. S.o. – in karmischer Hinsicht entscheidend (d.h. ob
heilsam oder nicht) ist der Wille, die Motivation.
Meinst du das wirklich so, wie es klingt? Alles ist heilsam, Mord, Folter, Diebstahl, Gewalt etc. wenn es nur „gut gemeint“ ist?
Du sprichst hier
von ganz konkreten Anforderungen, die sich uns im Alltag
stellen. Sich diesen zu stellen, ist buddhistische Praxis –
nicht das theoretische Erörtern konstruierter Fälle.
Ich sehe diese Erörterung auch eher als Vorbereitung für einen möglicherweise tatsächlichen Fall. Schließlich kann es jedem von uns jederzeit passieren, dass wir in eine Situation geraten, in der körperliche Gewalt eine Rolle spielt. Ich glaube, dann ist nicht mehr die Zeit zu überlegen, welches Handeln (und Alternativen gibt es immer) nun heilsam wäre. Tatsächlich kann man ja bereits vorher schon aktiv daran mitwirken, dass solche Situationen insgesamt weniger werden, bzw. sich Fähigkeiten antrainieren, mit solchen Situationen heilsam umzugehen (z.B. ein Deeskalatoinstraining mitmachen oder wie das heißt etc.)
Lieben Gruß
Marion