Hallo Sebastian,
Einmal davon abgesehen, dass
die Sila keine ‚Regeln‘ oder Gebote sind, sondern Gelöbnisse,
die man freiwillig auf sich nimmt, sind sie dazu da, um sich
in ihnen ernsthaft zu üben.
Also sind es Regeln (die man sich freiwillig zu eigen macht).
Wie schon gesagt - Du weisst nicht, was Sila (buddhistische Ethik) eigentlich ist. Du verwechselst es mit Pratimoksha (den Regeln der Mönche) bzw. Pratimoksha-samvara-sila (etwa ‚Ethik, die in Beschränkungen in Bezug auf die Mönchsregel besteht‘). Sila, wie sie z.B. in den fünf Grundsätzen (pancasila) formuliert wird, sind Qualitäten des Erwachten, sind die ‚soziale Gestalt‘ der Erleuchtung. Das Gelöbnis, sie zu praktizieren, ist unmittelbarste Form der Zufluchtnahme zu Buddha (der ersten der dreifachen Zufluchtnahme). Diese Praxis ist das, was es auch in der christlichen Mystik unter der Bezeichnung ‚Imitatio‘ gibt - dort natürlich auf Jesus bezogen. Im Soto-Zen nennen wir dies mit Dogen „die Spuren, die von den Buddhas hinterlassen wurden, studieren und ihnen mit ganzem Körper und Geist folgen“. Mit Befolgung äußerlicher Regeln hat das nichts zu tun.
Ich handele wie gesagt auch nach einer gewissen Ethik, die der
buddhistischen stark angelehnt ist, weil ich mich eben DOCH
als Buddhist bezeichne und dies - entgegen Deiner Meinung -
auch kann.
Du kannst natürlich tun, was Du willst - ob Du Dich dann zu recht als Buddhist bezeichnen kannst, ist eine andere Frage. Buddhist wird man durch die Zufluchtnahme. Nicht in Form eines Lippenbekenntnisses, sondern in Form der Praxis des achtfachen Pfades. Und das heisst Praxis von Sila, Prajna und Dhyana. Alles andere ist wirklich bestenfalls nur „angelehnt“.
Ihr praktiziert doch meines Wissens Ngöndro als vorbereitende Übung. Die erste Übung des ‚inneren‘ Ngöndro ist die Zufluchtnahme und das Ziel dieser Übung ist, die Qualitäten der Zufluchtsobjekte zu verstehen. Hier hast Du nochmals die Beziehung von Zufluchtnahme zu den Sila - die Sila sind nicht anderes die Qualitäten des Zufluchtsobjektes Buddha.
Ich bin kein Mönch (auch nicht zeitweise), sondern
Laienbuddhist und übe mich in der höchsten Sichtweise.
Vielleicht wäre es sinnvoller, zunächst einmal mit Ngöndro zu beginnen, statt sich gleich „in der höchsten Sichtweise“ zu üben. Dabei ist es völlig unerheblich, zu welchen Status Du in der vierfachen Sangha hast, ob Laie oder Mönch.
Dazu
sehe ich die Regeln als Leitlinien, als Bezugspunkt. Das
hindert mich aber nicht dran, wenn ich das für nötig halte,
diese Regeln zu übertreten, wenn jemand in Not ist oder die
Menschenrechte verletzt werden.
Da ich außer dem Bodhisattva-Versprechen kein Gelöbniss in dem
Sinne abgelegt habe, kann ich auch keins brechen. Und das
Bodhisattva-Versprechen ist nicht als äußeres Gelöbnis zu
verstehen, sondern bezieht sich auf die Motivation.
Was ist denn dieses Bodhisattva-Versprechen genau? Es gibt eine tibetische Tradition der Bodhisattva-Ordination (die sich übrigens von der chinesisch/japanischen etwas unterscheidet). Sie wurde von Atisha in Tibet eingeführt und geht auf das Akashagarbhasutra und Shantidevas Shikshasamuccaya zurück. Dazu gehören 18 Wurzel-Gelübde und 46 sekundäre Gelübde (die sekundären lassen wir im Folgenden mal außer Acht). Und bevor Du das jetzt wieder missverstehst - die Bodhisattva-Ordination ist keine Mönchsordination. Sie wird sowohl Mönchen wie auch Laien gegeben.
Die Bodhisattva-Ordination in der tibetischen Tradition ist die zweite Stufe der Entwicklung von Bhodicitta (‚jug-sems). Möglicherweise redest Du, wenn Du ‚Bodhisattva-Versprechen‘ sagst, von der ersten Stufe (smon-sems) - sie besteht aus der Erzeugung des Wunsches, ein Erwachter zum Wohle anderer Wesen zu werden (smon-sems smon-pa-tsam) und aus dem Versprechen, dieses Ziel bis zur Erreichung nicht aufzugeben (smon-sems dam-bca‘-can).
Dazu sollte es aber schon gehören, dass man sich mit den Bodhisattva-Gelübden ernsthaft auseinandersetzt (auch wenn man noch nicht bereit ist, sie abzulegen), um zu verstehen, was zur Entwicklung von Bodhicitta überhaupt gehört. Mit Motivation allein ist es ja nicht getan - man muss sie auch umsetzen.
Die Bodhisattva-Gelübde sind die Umsetzung dieser Motivation. Sie stehen wiederum nicht im Widerspruch zu Sila, sondern sie erweitern und ergänzen die Praxis der Panca-Sila, der fünf Sila-Grundsätze. Zur Erinnerung: die Panca-Sila gehören zur zweiten Stufe des Ngöndro, zur Zufluchtnahme. Erweckung von Bodhicitta ist dritte Stufe.
Das dritte Bodhisattva-Gelübde übrigens ist der Verzicht, Andere auch nur zu schlagen - geschweige denn zu töten. Wenn nun eines der 18 Wurzel-Gelübde übertreten wird, so führt dieser Bruch in der Regel zu einem ‚Verlust‘ der Gelübde und des dadurch erzeugten Verdienstes. Unausweichlich ist dieser Bruch/Verlust bei einer Verletzung des 9. Gelübdes (Aufrechterhaltung verzerrter, schädlicher Ansichten) und des 18. Gelübdes (Aufgeben von Bhodhicitta).
Mit „Aufrechterhaltung verzerrter, schädlicher Ansichten“ ist vor allem gemeint, das karmische Gesetz zu leugnen - und das ist so ziemlich genau das, was Du hier tust.
Bei den anderen 16 Gelübden sind Umstände möglich, die nicht zu einem Verlust der Gelübde, sondern lediglich zu einer Schwächung führen. Im einzelnen ist dies der Fall, wenn keiner der sog. ‚bindenden Faktoren‘ (kun-dkris bzhi) die Übertretung begleitet. Es gibt vier solcher Faktoren:
- die Übertretung nicht als schädlich ansehen, nur ihre Vorteile sehen und die Übertretung ohne Bedauern ausführen.
- die Übertretung aus Gewohnheit ausführen oder ohne den Wunsch / die Absicht, sie nicht zu wiederholen.
- an der Übertretung Freude empfinden
- kein Ehrgefühl oder Gefühl für Würde empfinden (ngo-tsha med-pa) - d.h. ohne die Absicht zu handeln, den Schaden, den wir uns selbst durch die Handlung zufügen, zu beheben.
Wie gesagt - wenn keiner dieser Faktoren vorhanden ist (vom Moment unmittelbar nach Entstehen der Motivation bis zum Moment unmittelbar nach Vollendung der Übertretung), dann ist dies nur insofern ein Ausnahmetatbestand, als er die Bodhisattva-Gelübde schwächt - unschädlich werden diese Handlungen dadurch nicht.
Weisheit für die relative Sichtweise, aber nicht für die
absolute.
Was weisst Du über ‚absolute Sichtweise‘? Was bedeutet denn paramartha-satya für konkretes Handeln? Was Du da von Scharfschützen und zum Wohle anderer Wesen töten erzählst, das hat mit paramartha-satya absolut nichts tun; es bewegt sich genau wie die Formulierung der Sila auf der Ebene samvrti-satya. Paramartha-satya kann nur auf der Ebene samvrti-satya zum Ausdruck gebracht werden - die Sila und die Bodhisattva-Gelübde sind ein Beispiel dafür.
Es gibt noch andere Ebenen der buddhistischen
Belehrungen.
… zu denen Du aber anscheinend noch nicht vorgedrungen bist. Das mit den „Ebenen“ würde ich an Deiner Stelle mal schnell vergessen - das hat nämlich nichts damit zu tun, sich Vorträge von Ole Nydahl anzuhören. Es gibt unterschiedliche Fahrzeuge, so dass Menschen mit unterschiedlichen Ausgangsbedingungen ihnen adäquate Mittel zum Erwachen finden können. Innerhalb dieser Fahrzeuge gibt es dann schon unterschiedliche Ebenen des Verständnisses - und bei den Tantrikern wohl auch der Belehrung. Diese Ebenen werden dort freilich aus didaktischen Gründen nur fortgeschrittenen Praktizierenden eröffnet - Du dürftest sie ebenso wenig kennen wie ich, vermute ich mal.
Eine ‚Ebene‘ Deines Fahrzeuges habe ich versucht, Dir hier anzudeuten. Eigentlich wäre dies Aufgabe Deines Lehrers - ich hoffe, Du hast einen fähigen Lehrer.
Und ein Buddha hält sich auch nur an so äußere
Verhaltensregeln, weil es die Buddhisten im Hinayana und
Mahayana sonst verstören würde.
Das, mein lieber Dharmafreund, kommentiere ich lieber nicht - ich möchte dem MOD die Mühe einer Abmahnung ersparen.
Freundliche Grüße,
Ralf