Hallo Wolfgang,
vorab: Ich bin weder Frank noch Thorsten, werde mir also auf gar keinen Fall diesen Schuh:
Nicht alle Tage werden Grenzen des Denkens, ideologische
Scheuklappen und Unkenntnis über Aufbau und Funktion des
Gemeinwesens so deutlich, wie in den Beiträgen von Frank und
von Dir.
anziehen. Dennoch sei es mir gestattet, auch mal Deine „Grenzen im Kopf“ freilegen zu düfen.
Der junge Mann hat
nicht begriffen, daß ihm von A bis Z, vom Auswärtigen Dienst
bis zur Zahnmedizin alles offen stünde, wenn er denn nur
wollte. Die Grenzen, an die er deshalb stoßen wird, sind
allesamt Grenzen seines Denkens.
Nein, es sind genauso Deine wie seine Grenzen des Denkens; Du reduzierst seinen möglichen Lebenserfolg unbedacht auf „beruflichen Erfolg“; Glaubst Du nicht, dass es außerhalb der Berufsarbeit nicht auch Erfolgsmöglichkeiten gibt; der entscheidende Punkt ist der, dass diese Erfolgsmöglichkeiten nicht alle gleichzeitig offenstehen, es handelt sich um ein Nullsummenspiel; um nur ein belangloses Beispiel zu geben (unabhängig von der konkreten Person dieses Jungen): Glaubst Du, er könnte Erfolg bei dem Mädchen seines Herzens haben, die gerade eine Ausbildung zur Friseuse macht, mit 20 das erste eigene Kind haben möchte, einen ausreichenden Lebensstandard geboten haben möchte, usw., wenn er sich jetzt entschließt, einmal Zahnmedizin zu studieren, damit aber frühestens mit 30 Jahren eigenes Geld verdienen kann? Nein, kann er nicht, bis dahin ist das Mädchen bereits dreifache Mutter - und zwar nicht mit ihm. Steht die Rationalität, Karriere zu machen über der Rationalität aus welchen Gründen auch immer, so früh wie möglich finanziell auf eigenen Füßen stehen zu wollen? Ich glaube, das ist eine schwierige Frage, oder nicht?
Es gibt ganze soziologische Bibliotheken, in denen gezeigt wird, wie das „Wollen“ der Berufswahl eine sehr direkte Funktion von familärer Herkunft, elterlichem Berufskapital und sozialem Milieu (Freundeskreise, etc.) ist. Eine der bekanntesten dieser soziologischen Untersuchung (am Beispiel Frankreichs) ist
Pierre Bourdieu, „Die feinen Unterschiede“.
Sinnigerweise trägt dieses Werk den Untertitel: „Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft“; das Werk zeigt also, wie die Urteile, die Individuen bereits auf der prä-reflexiven Ebene des „Wollens“ fällen, von ihrer gesellschaftlichen Herkunft abhängen; nun wird aber diese gesellschaftliche Herkunft unbestritten wohl in erster Linie durch die ökonomische Situation bestimmt.
Du kannst also gerne Frank und Thorsten „ideologische Scheuklappen“ und andere Nettigkeiten unterstellen, wirst Dir aber ein einfaches „Du doch auch“ anhören müssen, willst Du diese Scheuklappen nicht einer ganzen Wissenschaft wie der Soziologie aufsetzen, was wohl nichts mehr als eine Lachnummer wäre.
Ich belästige Dich mit weiteren Geschichten, in der Hoffnung,
daß Du merkst, worauf ich hinaus will: Gib mal bei Google
„Gerhard Schröder Lebenslauf“ oder „Horst Köhler Lebenslauf“
ein. Sie wurden mit keinem goldenen Löffelchen im Mund
geboren, ihre Eltern waren weder Spitzenbeamte noch
wohlhabende Leute mit großen Fabriken und keine Akademiker.
Erstens musst Du dir mal anschauen, in welcher Zeit diese Leute nach oben geschwemmt wurden: zwischen 45 und 68; dort bestand ein Zeitfenster des massenhaften sozialen Aufstiegs, was in Deutschland vor allem mit dem verlorenen Krieg zu tun hatte; dieses Modell einfach auf heute zu übertragen, ist reduktionistisch.
Zweitens ist es eine sehr seltsame Methode mit der Du hier vorgehst: Du nimmst Dir Erfolgreiche heraus und untersuchst ihre sozialen Wurzeln; gib doch mal den Namen eines vor zwanzig Jahren sozial niedrig Stehenden bei google ein! und Du wirst feststellen, dass er dort nicht zu finden ist.
Langer Rede kurzer Sinn: gesellschaftliche Fakten an Einzelbeispielen exemplifizieren zu wollen, ist ein Taschenspielertrick; es ist soziologischer common sense, dass die Aufstiegsmechanismen in keinster Weise so funktionieren, wie Du uns hier suggerieren willst; wer diese wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht zur Kenntnis nehmen will, handelt wohl noch ideologischer als „Frank und Thorsten“.
Falls immer noch nicht deutlich wurde, worauf ich hinaus will:
Der Arzt, der Dich behandelt, der Rechtsanwalt, der Dich
berät, der Metzger, der Dir Deine Schnitzel verkauft, der
Frisör, der Dir die Haare schneidet und der Kfz-Meister, der
Dein Auto instand setzt, haben sich ihre Praxis oder ihren
Betrieb allesamt selbst erarbeitet. Ohne ihren persönlichen
Einsatz hätte es den Betrieb nie gegeben.
Ok, aber hätte es ihren Betrieb gegeben ohne die Arbeitskraft der Mitarbeiter, ohne die Kaufkraft der Kunden, ohne Start-ups und Subventionen des Staates, etc.? In dieser langen Kette ist der Unternehmer nur ein Glied in einer langen Produktionskette; er ist genauso verzichtbar und unverzichtbar wie alle anderen Kettenglieder auch; hört Rechtsanwalt XY mit seiner Kanzlei auf, macht Rechtsanwalt YZ eine Kanzlei auf, usw. Die konkreten Personen sind allesamt austauschbar; Dein Argument des „Selbst-Erarbeitens“ ist nichts weiter als eine plumpe Heiligsprechung des Unternehmers und nicht weniger weltfremd als die plumpe Verdammung des „bösen Unternehmers“ von einigen Linken.
Für die
Idee, ein Jahrzehnt oder länger hart zu arbeiten, zu lernen,
auf Freizeit und Konsum weitgehend zu verzichten, sind
Menschen schwer zu begeistern.
Ist das ein Wunder, wenn diese Menschen der Gefahr des Scheitern so unmittelbar ausgesetzt sind, wie heute? Schau Dir doch mal die vielen Handwerksbetriebe an, die heute am Rande des Ruins dahinvegetieren, oder besser: die immense Zahl der Insolvenzen; die Leidtragenden hinter diesen Zahlen sind genau die von Dir eben skizzierten Individuen. Ist da der Freizeit- und Konsumverzicht noch als rational zu betrachten oder nicht doch eher als eine massive Form von Masochismus? Die Gründe für diesen Wechsel der Rationalität sind wohl unschwer in der heutigen Verfasstheit der ökonomischen Situation zu verorten.
Da erscheint es schon viel
bequemer
rationaler! wie klar geworden sein müsste
Neidflöhe
Wer den Gegnern des Kapitalismus „Neid“ unterstellt, muss im Gegenzug zulassen, dass diese ihm „Habgier“ unterstellen; da nun aber der Kapitalismus ein ökonomisches Phänomen ist, scheinen beide Unterstellung eher auf einen sehr verwirrten Geisteszustand ihres Urhebers schließen zu lassen, schließlich sind sie psychologischer oder moralischer Natur, ganz gewiss aber nicht ökonomischer Natur.
Daß man damit die
wichtigste Triebfeder, nämlich Eigeninitiative, lahm legt,
wird verdrängt und trotz der Ergebnisse entsprechender
Experimente geleugnet.
Zu diesen „Experimenten“ und ihrer plumpen Logik sei auf:
http://www.wer-weiss-was.de/cgi-bin/forum/showarchiv…
und auf:
http://www.wer-weiss-was.de/cgi-bin/forum/showarchiv…
verwiesen.
Viele Grüße
franz