_"…Zu Anfang des Jahrhunderts gab es einen General mit guten Beziehungen, der auch ein steinreicher Gutsbesitzer war, aber zu jenen Leuten gehörte - es waren ihrer allerdings schon damals, glaube ich, nur wenige -, die, wenn sie in den Ruhestand traten, fast überzeugt waren, daß sie sich das Recht über Leben und Tod ihrer Untergebenen verdient hätten. Solche gab es damals. Nun, dieser General lebt auf seinem Gut, einem Gut von zweitausend Seelen, tut groß, behandelt seine kleineren Nachbarn, als wären sie seine Schmarotzer und Narren. Er besitzt eine Meute aus Hunderten von Hunden mit fast hundert Hundewärtern, alle tragen sie Uniform und sind beritten. Und nun wirft eines Tages ein erst achtjähriger kleiner Junge, der Sohn eines Leibeigenen, beim Spielen einen Stein und verletzt den Lieblingshund des Generals am Bein. ‚Warum hinkt mein Lieblingsjagdhund?‘ fragt der General. Man meldet ihm, daß der kleine Junge einen Stein geworfen und den Hund am Bein verletzt habe. ‚Ah, du warst das‘, sagt der General und mustert ihn von oben bis unten, ‚greift ihn!‘ Man griff ihn, nahm ihn der Mutter weg, und die ganze Nacht saß er im Arrestlokal. Am nächsten Morgen, kaum ist es hell geworden, will der General in vollem Staat zur Jagd reiten. Er setzt sich aufs Pferd, umringt von seinen Schmarotzern, den Hundewärtern und Jägermeistern, die alle beritten sind, und den Hunden. Das ganze Hofgesindel ist versammelt, und vorn, vor allen anderen, steht die Mutter des schuldigen Knaben. Man führt den Knaben aus dem Arrestlokal heraus. Es ist ein düsterer, kalter, nebeliger Herbsttag, prachtvoll zur Jagd. Der General befiehlt, den Knaben zu entkleiden, das Kind wird ausgekleidet, es zittert, ist vor Angst von Sinnen und traut sich nicht zu mucksen. ‚Hetzt ihn!‘ kommandiert der General. ‚Lauf, lauf!‘ rufen ihm die Hundewärter zu, und der Knabe läuft… ‚Ihm nach!‘ brüllt der General und läßt die ganze Meute der Windhunde auf ihn los. Vor den Augen der Mutter hetzte er das Kind zu Tode, und die Hunde rissen es in Stücke! … Den General hat man, glaube ich, unter Kuratel gestellt. Nun … was hätte man mit ihm machen sollen? Ihn erschießen? Ihn zur Befriedigung des sittlichen Gefühls erschießen? Sag doch, Aljoschka!"
„Ja, erschießen!“ sagte Aljoscha leise und erhob mit einem schwachen, verzerrten Lächeln seinen Blick zu dem Bruder.
„Bravo!“ brüllte Iwan in einer Art Begeisterung. „Wenn sogar du das sagst, dann… Du bist mir ein Mönch! Sieh mal an, was für ein kleiner Teufel in deinem Herzen sitzt, Aljoschka Karamasow!“
„Ich habe etwas Unsinniges gesagt, aber…“
„Das ist es ja gerade, das ‚aber‘…“ rief Iwan. „Damit du’s weißt, Novize: das Unsinnige ist nur allzu notwendig auf Erden. Auf dem Unsinnigen beruht die Welt, und ohne das würde auf Erden vielleicht überhaupt nichts geschehen. Ich weiß, was ich weiß!“
„Was weißt du denn?“
„Ich begreife ncihts“, fuhr Iwan fort, als spräche er im Fieber, „ich will jetzt auch nichts begreifen. Ich will bei den Tatsachen bleiben. Ich habe schon längst beschlossen, nichts mehr zu begreifen. Wenn ich etwas begreifen wollte, würde ich sofort den Tatsachen untreu werden, ich aber habe beschlossen, bei den Tatsachen zubleiben…“
„Warum stellst du mich auf die Probe?“ rief Aljoscha bekümmert. „Wirst du mir es nun endlich sagen?“
„Natürlich werde ich es dir sagen. Es dir zu sagen war ja meine einzige Absicht. Du bist mir teuer, ich will nicht, daß du mir entkommst, und ich werde dich deinem Sosima (Aljoschas Abt) nicht abtreten.“
Iwan schwieg ungefähr eine Minute, sein Gesicht wurde auf einmal sehr traurig:
„Hör mich an: ich habe nur die kleinen Kinder herausgegriffen, damit es um so deutlicher werde. Von den Tränen der übrigen Menschen, mit denen die ganze Erde durchtränkt ist, von ihrer Rinde bis zum Mittelpunkt - davon will ich kein Wort reden, ich habe mein Thema absichtlich beschränkt. Ich bin eine Wanze und gestehe in all meiner Niedrigkeit, daß ich überhaupt nicht begreifen kann, wozu alles so eingerichtet ist. Die Menschen sind offenbar selber schuld: ihnen war das Paradies gegeben, sie aber wollten Freiheit und raubten das Feuer vom Himmel, obwohl sie selber wußten, daß sie unglücklich werden würden. Man braucht sie also nicht zu bedauern. Oh, nach meinem jämmerlichen, irdischen euklidischen Verstand weiß ich nur, daß es Leiden gibt, aber keine Schuldigen, daß alles unmittelbar und einfach eines aus dem anderen folgt, daß alles fließt und sich ausgleicht - aber das ist doch nur euklidischer Unsinn, das weiß ich doch, ich kann mich doch nicht bereit erklären, danach zu leben! Was habe ich schon davon, daß es keine Schuldigen gibt, daß alles unmittelbar und einfach eines aus dem anderen folgt und daß ich das weiß - ich brauche Vergeltung, sonst vernichte ich mich selber. Und zwar eine Vergeltung nicht irgendwo und irgendwann in der Unendlichkeit, sondern noch hier auf Erden und so, daß ich selbst sie sehen kann. Ich habe an sie geglaubt, nun will ich sie auch selber sehen, sollte ich aber bis dahin schon tot sein, so möge man mich auferstehen lassen; denn wenn alles in meiner Abwesenheit geschähe, so wäre das zu kränkend für mich. Ich gabe nicht dazu gelitten, daß ich, daß meine Missetaten und Leiden als Dünger dienen für irgendwessen künftige Harmonie. Ich will mit eigenen Augen sehen, wie die Hindin sich neben den Löwen legt und wie der Ermordete aufsteht und seinen Mörder umarmt. Ich will dabeisein, wenn alle plötzlich erfahren, weswegen alles so gewesen ist. Auf diesem Wunsch beruhen alle Religionen der Erde, und ich bin gläubig. Doch da sind nun die kleinen Kinder, und was fange ich mit ihnen an? Das ist eine Frage, die ich nicht zu lösen vermag. Zum hundersten Mal wiederhole ich: es gibt eine Menge von Fragen, doch ich habe nur die kleinen Kinder herausgegriffen, weil an ihnen unwiderlegbar klar wird, was ich zu sagen habe. Höre: wenn alle leiden müssen, um mit ihrem Leiden die ewige Harmonie zu erkaufen, was haben dann die Kinder damit zu tun? Sag mir das bitte! Es ist gar nicht begreifen, weswegen auch sie Leiden und mit ihren Leiden die Harmonie erkaufen müssen. Weswegen sind denn auch sie unter das Material geraten und haben als Dünger für irgendwessen künftige Harmonie dienen müssen? Die Solidarität der Menschen in der Sünde begreife ich, auch ihre Solidarität in der Vergeltung, aber die kleinen Kinder sind doch nicht mit ihnen solidarisch in der Sünde, und wenn die Wahrheit wirklich darin bestehen sollte, daß sie zusammen mit ihren Vätern für all deren Missetaten solidarisch büßen, so ist diese Wahrheit selbstverständlich nicht von dieser Welt und mir unbegreiflich. Mancher Spaßvogel wird wohl sagen, das Kind werde ohnehin heranwachsen und dann eben auch sündigen, aber nun ist ja gar nicht herangewachsen, man hat es im achten Lebensjahr mit Hunden zu Tode gehetzt. Oh, Aljoscha, das soll keine Gotteslästerung sein! Begreife ich doch, wie gewaltig die Erschütterung des Weltalls sein müssen, wenn alles im Himmel und unter der Erde zu einer einzigen Stimme des Lobes verschmelzen und alles, was lebt und gelebt hat, anrufen wird: ‚Gerecht bist Du, Herr, denn geoffenbart haben sich Deine Wege!‘ Wenn selbst die Mutter den Peiniger umarmt, der ihren Sohn von Hunden zerfleischen ließ, und alle drei unter Tränen ausrufen: ‚Gerecht bist Du, Herr!‘ dann ist natürlcih der Gipfel der Erkenntnis erreicht, und alles findet seine Erklärung. Doch da steckt ja gerade der Haken, den dem kann ich nicht zustimmen. Und solange ich noch auf Erden bin, beeile ich mich, meine Maßnahmen zu ergreifen. Siehst du, Aljosch, vielleicht wird es ja tatsächlich so kommen, daß auch ich, wenn ich diesen Augenblick noch erlebe oder auferstehe, um zugegen zu sein, am Ende mit allen zusammen beim Anblick der Mutter, die den Peiniger ihres Kindes umarmt hält, ausrufen werde: ‚Gerecht bist Du, Herr!‘ Ich will aber dann nicht rufen. Solange noch Zeit ist, beeile ich mich, mich zu schützen, und verzichte darum völlig auf die höhere Harmonie. Sie ist nicht einmal eine einzige Träne auch nur des einen gequälten Kindes wert, das sich mit den Fäustchen an die Brust schlug und in dem übelriechenden Loch mit ungesühnten Tränen zu seinem ‚lieben Gott‘ betete. Sie ist es nicht wert, weil seine Tränen ungesühnt geblieben sind. Sie müssen gesühnt werden, sonst kann es keine Harmonie geben. Womit aber soll man sie sühnen? Ist das überhaupt möglich? Etwa dadurch, daß sie gerächt werden? Doch was soll mir die Rache, was nützt es mir, wenn die Peiniger in die Hölle kommen, was kann die Hölle wiedergutmachen, wenn die Kinder schon zu Tode gequält sind? Und was ist das für eine Harmonie, wenn es noch eine Hölle gibt? Ich will verzeihen und umarmen, ich will nicht, daß noch gelitten wird. Und wenn die Leiden der Kinder dazu verwendet wurden, jene Summe von Leiden vollzumachen, die für den Kauf der Wahrheit notwendig war, so behaupte ich im voraus, daß die ganze Wahrheit einen solchen Preis nicht wert ist. Schließlich will ich auch gar nciht, daß die Mutter den Peiniger umarmt, der ihren Sohn von Hunden zerreichen ließ! Sie darf sich unterstehen, ihm zu verzeihen! Wenn sie will, mag sie verzeichen, soweit es sie selber angeht; sie mag dem Peiniger ihr maßloses Mutterleid verzeihen; aber die Leiden ihres zerfleischten Kindes zu verzeihen, hat sie kein Recht; sie darf es nicht wagen, dem Peiniger zu verzeihen, auch wenn das Kind selber ihm verziehe! Wenn sich das aber so verhält, wenn sie es nicht wagen darf, ihm zu verzeihen, wo bleibt dann die Harmonie? Gibt es denn in der ganzen Welt ein Wesen, das verzeihen könnte und ein Recht dazu hätte? Ich will keine Harmonie, aus Liebe zur Menschheit will ich sie nicht. Ich will es lieber bei den ungerächten Leiden belassen. Lieber belasse ich es bei meinem ungerächten Leiden und bei meinem ungestillten Zorn,_ selbst wennich nicht recht haben sollte. _Auch hat man die Harmonie zu hoch bewertet, es geht über meine Verhältnisse, soviel für den Eintritt zu zahlen. Darum beeile ich mich, meine Eintrittskarte zurückzugeben. Und wenn ich ein ehrlicher Mann bin, so bin ich verpflichtet, sie so bald wie möglich zurückzugeben. Das tue ich auch. Nicht Gott lehne ich ab, Aljoscha, sondern ich gebe Ihm nur erherbietigst die Eintrittskarte zurück.“
„Das ist Auflehnung“, sagte Aljoscha leise mit gesenktem Blick.
„Auflehnung? Dieses Wort hätte ich von dir nicht hören wollen“, sagte Iwan eindringlich. „Kann man denn in Auflehnung leben? Ich aber will leben. Sage mir geradeheraus, ich forder dich dazu auf, antworte: stell dir vor, du selbst errichtetest das Gebäude des Menschenschicksals mit dem Endziel, die Menschen zu beglücken, ihnen endlich Frieden und Ruhe zu geben, aber du müßtest dazu unbedingt und unvermeidlich nur ein einziges winziges Geschöpf zu Tode quälen, beispielsweise jenes kleines Kind, das sich mit den Fäustchen an die Brust schlug, und auf seine ungerächten Tränen dieses Gebäude gründen - wärst du unter dieser Bedingung bereit, der Architekt zu sein? Sag es, ohne zu lügen!“
„Nein, ich wäre nicht bereit“, sagte Aljosch leise.
„Und könntest du es für möglich halten, daß die Menschen, für die du baust, bereit wären, ihr Glück um den Preis des ungerechtfertigten Blutes eines zu Tode gequälten Kindes zu empfangen und danach für ewig glücklich zu bleiben?“
„Nein, ich hielte es nicht für möglich, Bruder,“ sagte Aljosch…_
Dann kommt der „Großinquisitor“. Das schreibe ich jetzt nicht, obwohl „der Großinquisitor“ meiner Meinung nach zu den größten Werken gehört, die je geschrieben worden sind. Phänomenal.
Ich wollte nur zeigen, dass auch klügere Köpfe als zumindest ich, keine wirkliche Antwort gefunden haben, wie mit Verbrechern unvorstellbarem Ausmasses zu verfahren ist. Und das schrieb einer, der die Todesstrafe am eigenen Leib erlebt hatte (die Soldaten hatten schon angelegt und dann wurde er in letzter Sekunde zu Sibirien „begnadigt“).