- gewöhnlich ist es keine moralische Forderung, allgemein
„Opfer“ oder deren Nachkommen grundsätzlich von auf andere
Dinge bezogener Kritik auszunehmen; warum ist dies hier der
Fall?
Ist es nicht. Ich erwarte nur eine differenzierte Haltung, und gewisses Verständnis für die israelische Politik, vor allem aber erwarte ich das Unterlassen stereotyper Unterstellungen gegenüber den Nachkommen der Überlebenden.
Wie man meinen bisherigen Beiträgen entnehmen konnte, bin auch ich gegen den Siedlungsbau; schwadroniere dabei aber nicht darüber, wie schlimm doch Israel das Völkerrecht mit dem Siedlungsbau missachtet und niemand sie daran hindert weil die UN von den USA dominiert werden und dass ja das Land sowieso gestohlen sei etc.pp.
Allein die ewigen Klischees verleiten mich dazu, Israel selbst in Fragen zu verteidigen, in welchen ich nicht konform gehe mit der Politik der aktuellen israelischen Regierung. Denn zu oft zielt die Kritik an israelischer Politik weniger auf die israelische Politik an sich als vielmehr auf die Existenz Israels als solche - und die Juden, als solche.
- würdest Du diese Forderung für die anderen „Opfergruppen“
des Holocausts auch erheben?
Natürlich. Aber Behinderte, Sinti und Roma, Homosexuelle oder Kommunisten haben halt keinen Staat, dessen Handeln als Projektionsfläche latenten und offenen Hasses dienen könnte. Dementsprechend sorgen sie für weniger Aufregung. Zynisch könnte man sagen, dass es in Deutschland ja niemanden interessiert, wenn da mal ein paar tausend Zigeunger (darf man das Wort eigentlich benutzen? Höre nur widersprüchliches) für die Erinnerung an ihr Leiden kämpfen.
Das singuläre am Holocaust ist ja nicht, dass wie in anderen faschistischen Systemen Minderheiten aus machtpolitischen Gründen unterdrückt und systematisch verfolgt wurden, sondern dass eine komplette Ethnie für die Projektion des Hasses auf den Kapitalismus an sich und alles „unvölkische“, was mit ihm verbunden wurde, herhalten musste und bis in den letzten Winkel der Erde ausgerottet werden sollte.
Deswegen ist ja auch die schlangenzüngig eingeforderte „religiöse“ Toleranz gegenüber den Juden so sinnlos. Antisemiten geht es ja nicht um die jüdische Religion, von der sie keine Ahnung haben; sondern um die Vermutung, die Juden steckten hinter allen Übeln des globalen Kapitals.
- es dürfte als allgemein-menschlich gelten, bisweilen von
der Geldgier getrieben zu werden, und öfter mal eher
unbrauchbare Argumente für politische Interesse zu gebrauchen;
so etwas ist überall in der Welt feststellbar; worin besteht
die Wichtigkeit, die „Nachkommen der Überlebenden des
Massakers“, wie Du es bezeichnest, davon grundsätzlich
auszunehmen?
Weil ich diese Unterstellung einfach nur ekelhaft finde. Auch gegenüber anderen Leuten/Ethnien übrigens. Auch im privaten. Wer Leid erfährt und darauf hinweist und eine WIEDERGUTMACHUNG (allein dieses Wort, wie KANN man die Vernichtung einer Familie, Jahre der Folter und der Zwangsarbeit mit GELD „wiedergutmachen“?!) fordert, ist doch wohl nur (allzusehr) im Recht: Man muss doch sogar dafür bezahlen, wenn man jemandem versehentlich in die Karre fährt. Aber VORSÄTZLICHEN Massenmord soll man nicht bezahlen?!
Natürlich gibt es das Phänomen der Viktimisierung ganzer Staaten - man will ja medial auf der besseren Seite stehen. In der Opferrolle kommt man halt besser rüber; ist ja nicht nur in Palästina so (man erinnere sich grad etwa an russische Gaskonzerne, die es wagen, Weltmarktpreise für ihr Produkt einzufordern und denen gleich von unseren Medien die niederträchtigsten Absichten für ihr armes armes Nachbarland unterstellt werden).
Und sicherlich gibt es auch in Israel die Bestrebung, ausschließlich das eigene Leid zu präsentieren und dabei fremdes auszublenden. Aber das geschieht mittels aktueller Geschehnisse - hat je ein israelischer Politiker gesagt „weil wir als Staat dem Holocaust entstammen, haben wir das Recht, im Nahen Osten zu tun zu lassen was wir wollen“?
(WEnn ja bitte ich um Quelle. Aber bitte keinen rechtsradikalen Hinterbänkler oder wirrköpfigen Siedler hervorkramen, sondern Entscheidungsträger.)
Aber wozu auch - es bieten doch der aktuelle Konflikt und die Kriege seit Staatsgründung genug Stoff für jene Viktimisierung, aber auch genug reale Rechtfertigung für die Israelische Verteidigungspolitik.
- ist dieses grundsätzliche Ausnehmen nicht ein sehr
problematisches Vorgehen, wenn man bedenkt, dass der Weg vom
Ausnehmen zur Ausnahme zur Ausblendung vielleicht ein kurzer
ist?
Um’s Ausblenden schreit ja der Durchschnittsdeutsche schon seit Jahrzehnten. Je mehr er nach „Normalität“ schreit, umso weniger kann er sie bekommen - schon durch sein eigenes Verhalten.
Ist ja im privaten nicht anders: Wenn Du richtig scheiße gegenüber jemandem baust, liegt es sicherlich nicht an dir, vom andern „Normalität“ einzufordern.
- ich könnte mir vorstellen, Du begründest die Notwendigkeit
des Ausnehmens mit der „völligen Unvergleichkeit des
Holocausts“, seiner Sonderstellung im historischen Ablauf der
Abscheulichkeiten;
ist es nicht u.U. aber vielleicht eine paradoxe Form der
(ungewollten) Leugnung des Holocausts, wenn man ihn zur
totalen Ausnahme macht, ihn nicht in seiner „Normalität“
erkennt, in seinem Eingebettet-Sein in die Welt des 20./21.
Jhdts., in seiner grundsätzlichen Wiederholbarkeit, seiner
Paradigmatizität?
Sowenig wie Antisemitismus schlichter Rassismus ist, sowenig finde ich, kann man den Holocaust in jene traurige Realität - oder Normalität - der Genozide des 20. Jahrhunderts einreihen.
Aber über das Thema gibt es viele kluge Bücher, die ich sicherlich nicht in den paar Zeilen, die ich hier habe, an Klugheit übertreffen können werde.
Gruß