Warum ich nicht nach der Schule studierte…(lang)
Hai, Punkt,
meine Geschichte beginnt ca. im Jahr 1978. Ich war in der 6. Klasse und es ging um die Frage, auf welche weiterführende Schule ich sollte. Meine Lehrer waren sich einig, daß ich auf’s Gym sollte - trotz bildungsfernen Elternhauses und Halbwaisenstatus. Mein Vater war anderer Ansicht; wozu sollte ich Abitur machen, wenn ich ja doch mit 18 heiraten und Kinder kriegen würde…?
Durchsetzen konnte ich die Gesamtschule.
Mit 14 hatte ich dann einen Freund. Der Typ war ein übler Griff ins Klo, was mein Vater zwar wusste, aber mir mitzuteilen nicht für nötig hielt. Daß er mir sofort erlaubte, bei diesem Freund auch zu nächtigen, hätte mich mißtrauisch machen sollen - how ever, kaum waren zwei Wochen um, erreichte mich die Nachricht, daß ich zusehen solle, mein restliches Zeug aus der väterlichen Wohnung zu holen, hat er doch wieder mal keine Miete gezahlt und der nächste Rausschmiß stand an.
Ich holte mein Zeug - mein Vater flog aus der Wohnung und ging verschütt…
Also beantragte ich BaFöG…
Für Schüler bis zur 10. Klasse gab’s nix - also beantragte ich Sozialhilfe…
Für Minderjährige bekamen nur die Eltern Sozialhilfe - mein Vater war aber nicht mehr auffindbar, war nirgens gemeldet und arbeitete auch nicht offiziell.
Dumm gelaufen…
…und ich war finanziell von diesem „Freund“ abhängig…
Mit knapp 16 kam dann auch ich dahinter, das der Typ ein Schwein war und trennte mich von ihm (anlässlich der Tatsache, daß er in den frühen Morgenstunden von der Polizei abgeholt wurde).
Kurz nach der Trennung ging ich auf eine Oberstufe, um Abi zu machen und ich bekam Besuch vom Gerichtsvollzieher - der „Freund“ hatte meinen Ausweis benutzt, um (viele und teure) Bücher von der Amerika-Gedenk-Bibliothek zu holen - sämtliche Einspruchsfristen waren abgelaufen (er hatte die Post abgefangen) und ich hatte 12.000 Märker Schulden am Allerwertesten - in der 11. Klasse…
Aber nun bekam ich Notfall-BaFöG. Zweihundertundeinpaarzerquetschte.
Allerdings nur einen Teil als Vorschuß und unter Vorbehalt - konnte ich doch keine Steuerkarten meines Alten vorlegen. Auch die Sozial-Hilfe blieb mir verwehrt; die hätte ja der Alte beantragen müssen…
Ich hauste in einer WG, wurschtelte mich so durch, jobbte neben der Schule (was dazu führte, daß ich am Schluß noch an zwei von fünf Tagen in der Schule war) und kurz vor meinem 18. Geburtstag kündigte sich ein TroPi an 
Ich ging zur Schule, wohnte in einer WG und hatte keinen Pfennig - ein Kind zu bekommen, stand also völlig außer Frage, folglich tappste ich zum Onkel Doktor - bis die Wartezeiten und Scheine zusammen waren war ich 18 - und der nächste Hammer kam: meine Krankenversicherung lief über die Halbwaisenrente (die mein Alter natürlich die ganze Zeit über behalten hat). Die Versicherung hatte auch geschrieben, daß mein Versicherungsschutz mit meinem 18. Geburtstag enden würde, es sei denn, man würde ein Schreiben einreichen, daß ich noch zur Schule ginge - sie schrieben an meinen Vater…
…und ich blieb auf den Kosten der Abtreibung sitzen.
Dafür bekam ich jetzt zu dem BaFöG-Vorschuß monatlich die Halbwaisenrente - fast 500,- DM!!! - mit fast 25.000,- DM Schulden…
Mit 19 hatte ich dann endlich mein Abi in der Tasche.
Meine Gläubiger drängten so langsam auf Zahlung und das BaFöG-Amt teilte mir lapidar mit, daß ich nicht darauf hoffen könne, daß das normale BaFöG auf Vorschuß-Basis gezahlt werden würde - keine Unterlagen vom Vater => kein Geld
Das Sozialamt teilte mir ebenso lapidar mit, daß ich auch von denen kein Geld bekommen würde, da ich ja Ansprüche gegen meinen (immernoch unauffindbaren) Vater und das BaFöG-Amt hätte.
Damit blieb mir die Wahl, ohne Geld ein Studium zu beginnen, oder mir einen Job zu suchen. Die folgenden Jahre gingen drauf, um die Schulden loszuwerden…
Klar - ich hätte meinen Vater verklagen können, dann hätte ich einen Titel bekommen und hätte das Geld von einem Gerichtsvollzieher eintreiben lassen können…
…wenn ich gewusst hätte, wo der Kerl zu finden gewesen wäre und der irgendetwas pfändbares gehabt hätte. Brot auf den Teller hätte mir das nicht gebracht.
Ich hätte auch den „Freund“ verklagen können, um mir die Kohle zurückzuholen - inzwischen wusste ich aber, was für ein Typ das war und hab’s lieber gelassen.
Ich hätte der Amerika-Gedenk-Bibliothek mitteilen können, daß ich ja noch mindejährig war und sie sich die Kohle von meinem Alten holen sollen (wenn ich von der Möglichkeit gewusst hätte).
Nun bin ich vierzig, offiziell Ungelernte, arbeite als eierlegende Wollmilchsau („technische Angestellte“ *gg*) in einer kleinen IT-Firma. Aber…
…ich bin auch im 2. Semester an der Uni Hagen!!!
(und bin am Kotzen, weil man in 20 Jahren zwischen Abitur und Studienbeginn eine Menge einfach vergisst - und ich hab mir Informatik und Elektrotechnik ausgesucht…*stöhn*)
Heute kann ich mir das leisten, was ich lieber (und besser) vor zwanzig Jahren getan hätte - aber vor zwanzig Jahren bin ich eben durch’s Sieb gerutscht. Und ich war damit nicht alleine…
Gruß
Sibylle