Hallo Anja,
ich beantworte das mal als jemand, der im Rahmen von Freundschaft / guter Bekanntschaft sowohl den ADS-Fall als auch den als ADS abgestempelten Fall kennt.
Womit fängt das Spiel an: Da ist ein Kind, das irgendwie abseits der Norm ist. Das schafft Druck von außen. Das Kind steht sich selbst im Weg und leidet. Das kann man als Eltern schwer ertragen. Also nochmal Druck. Das Verhalten des Kindes selbst ist durchaus anstrengend - wieder Druck. Dann sucht man Hilfe - und findet die nicht einfach so. Oft sind die Einstiege in die Hilfe auch schon ungünstig, weil aus irgendeiner Richtung stigmatisiert.
Ständig fragt man sich als Elternteil, ob das, was man da gerade tut, das Richtige ist. Im Spannungsfeld zwischen „das Kind nicht überfordern“ auf der einen Seite, fördern und helfen wollen auf der anderen. Die Grenzen dazwischen sind oft fließend. Das Ganze ist eh schon ätzend genug, weil man sich beim eigenen Kind ja nun schwer von Emotionalität frei machen kann (und im Zweifel auch nicht soll).
Wenn dann aber noch hinzukommt, dass man nicht auf Anhieb den richtigen, fachkompetenten Arzt findet, man nervigenden, demütigenden Prozeduren unterworfen wird, die man - obwohl irgendwie alles schon innerlich auf Ablehnung schreit, weil das wirklich was inquisitorisches haben kann - aber man macht das, weil man es muss. Selbst redend bemüht, die innere Ablehnung, die innere Unsicherheit, was auch immer vor dem Kind zu verbergen oder zumindest das so zu leben, dass es so wenig wie möglich zusätzlich belastet. Bis dahin ist das alles schon ätzend und belastend genug.
Und dann kommt die Umwelt. Da es um „Kind“ und „Verhalten“ geht, fühlt sich jeder berufen, eine Meinung haben zu können und zu dürfen. Und äußert die - gefragt oder ungefragt. Und dabei ist es dann schon wurscht, ob das Ganze (mehr oder minder aggressiv) als Erziehungsfehler der Eltern abgetan wird oder man auf der anderen Seite überhäuft wird mit achso wohl gemeinten Tipps. Das schafft zusätzlichen Druck und ist alles andere als hilfreich. Und selbst, wenn es im Zweifel noch nicht einmal bös gemeint ist, kriegt diese Umwelt dann den Druck ab, den man woanders nicht ablassen kann (weil gegenüber Schule, Arzt oder gar Kind ist das schlecht).
Für diese Konstellation ist es dann nochmal herzlich wurscht, ob das Kind nun tatsächlich ADS hat oder nicht. In beiden Konstellationen ist das für die Betroffenen Mist. Der Unterschied kristallisiert sich dann in erster Linie am Punkt Medikamente. Die ADS-Familien, bei denen ein Medikament (eine Teil-)Lösung der Therapie ist, müssen sich dann auch noch beschimpfen lassen, dass sie ihren Kindern „böse Psychopharmaka“ geben. -> Verstärkter Druck der Umwelt. Die, die sich - zu recht - gegen eine ungerechtfertigte ADS-Abstemplung wären müssen, führen ihren Kampf dann vor allem an der Front „Fachkräfte“ (Erzieher, Lehrer, Arzt). Nicht zu vergessen den Umstand, dass ADS ein Gebiet ist, bei dem die Forschung noch in den Kinderschuhen steckt!
Und dann kommt last not least noch etwas Fatales hinzu, was auch manch Verhalten erklärt: Wer ständig derart den Vorurteilen von Umwelt ausgesetzt ist, sucht sich schon aus Selbstschutz dann lieber Gleichgesinnte, um nicht ständig in dieser Reibungssituation zu sein. Das Problem daran: Man begibt sich damit halt auch in eine eigene Welt und verliert ein wenig den Kontakt „zur Normalität“. Um dahin zurückzukehren braucht es - so sich die Umwelt nicht ändert - ein dickes Fell. Und das muss erst einmal wieder wachsen können, nachdem für das Kind selbst eine gute Lösung gefunden wurde und sich die Situation innerfamiliär wieder entspannen konnte. Und vorhandene Narben reissen dann auch mal schnell wieder auf.
LG Petra