Türkischer Völkermord an den Griechen?

Hallo!

Warum wird in der hiesigen Öffentlichkeit eigentlich der türkische Massenmord an den Griechen kaum thematisiert (ich schätze, jeder zweite Deutsche wird nicht mal davon gehört haben), während der an den Armeniern sehr präsent ist.

Im Beschluss des Bundestags werden die Griechen sogar vollends übergangen, während neben den Armeniern, die Assyrer, die Aramäer und die Chaldäer explizit genannt werden?

Größenordnung:
Tote zwischen 300.000 und 700.000 angenommen
Dislozierte über 1.000.000

Gruß
F.

Tibet ist ein weltweit anerkannter Teil Chinas und bei der Krim, wo die Annexion weitgehend unblutig war, wird ein großes mediales Geschrei gemacht.

Westliche Werte sind stark vom Opportunismus geprägt.

Natürlich ist Gedenken und überhaupt Geschichte immer auch der aktuellen politisch-ideologischen Haltung geschuldet. Tibet und die Ukraine sind gute Beispiele dafür.

Aber was ist der Hintergrund bei den Griechen?

Gruß
F.

Wer ständig schwächere Völker und Minderheiten bekämpft ist ein guter Kunde der Rüstungsindustrie.

1 Like

Wann soll es gewesen sein? Ewtl. bei der Gründung des osmanischen Reiches im Jahre 1299?
Oder etwas später?

GG

www.en.wikipedia.org/wiki/Greek_genocide

Gruß
F.

1 Like

Hallo,

Deine Frage indiziert eine völlig ahistorische Einseitigkeit.
Bei den Kämpfen zwischen Griechen und Türken 1919-1922 (als Folge der Aufstückelung des osmanischen Reiches durch den Vertrag von Sevres) gab es auf beiden Seiten enorme Opfer unter der Zivilbevölkerung.
Griechenland besetzte dabei nicht nur die ihm zugesprochenen Gebiete Ostthrakien und Smyrna (Izmir), sondern marschierte mit seinen Truppen auch im Rahmen von „Verteidigungs-“ und "Vergeltungs"feldzügen bis kurz vor Ankara.

Der sog. „Bevölkerungsaustausch“ war dann Ergebnis des Vertrags von Lausanne 1923, bei dem auch ca. 400-500.000 „Türken“ aus Griechenland vertrieben wurden.

Faktisch war dieser Krieg ein nationalistisch verbrämter Religionskrieg, da die Religion von beiden seiten als einziges Unterscheidungsmerkmal herangezogen wurde, was der ethnischen Vielfalt in Nordgriechenland und West- sowie Südanatolien in keinster Weise entsprach.

&Tschüß
Wolfgang

Servus,

ich denke einer der Gründe ist Griechenland selber. Nach dem Griechisch-Türkischen Krieg versuchten beide Seiten die Bezeihungen zu verbessern. Es folgten der Vertrag von Lausanne, die Balkan-Entente, der Balkanpakt etc. Da beide Seiten Dreck am Stecken hatten (klar, der türkische Dreck war um einiges größer), hatte auch keine der beiden Seiten großartig Lust sich mit dem Thema zu befassen. Realpolitik vom feinsten…

Das änderte sich erst mit Zypern und in den letzten Jahrzehnten gab es immer wieder Aufs und Abs in der Beziehung. Seit dem Putschversuch in der Türkei geht’s tendentiell eher wieder abwärts. Wenn du mich fragst, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich auch die EU näher mit dem Thema befassen muss und das Ergebnis dürfte der Türkei eher nicht schmecken.

Im Gegensatz dazu hat ja vor allem die armenische Diaspora in den USA unermüdlich lobbyiert. Je nach politischer Wetterlage wird so ein Thema dann halt aufgegriffen oder nicht. Sollte der sich USA-China Konflikt doch weiter aufheizen, wäre ich sehr verwundert, wenn die USA nicht plötzlich ihr Herz für Tibet entdecken würden. Richard Gere scharrt vermutlich schon in den Startlöchern :wink:

Ich rede vom Massenmord, der begann sechs Jahre …

… bzw. 10 Jahre vorher.

Gruß
F.

… und nach dem 2. Weltkrieg, eine Zeit, in der überhaupt erst nach und nach ein Bewusstsein für Genozide entstanden ist: Bürgerkrieg, Faschismus, Kommunismus, Militärdiktatur in Griechenland.
Vielleicht hat das auch ein Bild der Griechen-als-Opfer in unserem Bewusstsein schwierig gemacht.

Gruß
F.

Ups.
Wissenslücke. Danke.
Sch

Hallo,

Tatsächlich, davon habe ich noch nie gehört.

Hier ist noch ein Link zu einem deutschsprachigen Bericht

http://www.akrites.de/sites/de/genozid_pontos.htm

Hi!

Du beziehst dich also auf die Balkankriege?
Auch da war keine der betroffenen Seiten zimperlich, egal ob Serben, Bulgaren, Griechen oder (damals noch) Osmanen.

Grüße,
Tomh

PS:

Die Folgen sind noch heute z.b. im Sport zu sehen:

  • AEK (Athlitiki Enosi Konstantinoupoleos) Athen

  • PAOK (Panthessalonikeios Athlitikos Omilos Konstantinoupoliton) Saloniki
    etc.
    Gegründet von den vertriebenen Griechen, nicht zufällig haben eben diese Vereine den byzantinischen Doppelkopf-Adler im Wappen - und werden Griechenland-intern „die Türken“ genannt.

1 Like

Die angeblich gelungene gegenseitigen Umsiedlungen von Griechen und Türken soll Winston Churchill angeführt haben, als es in der Konferenz von Teheran um die nach Kriegsende zu vollziehende Teilung Deutschlands und die Westverschiebung Polens ging. Übrigens: die Idee der Westverschiebung Polens stammt nicht vom „bösen“ Stalin, sondern von Churchill

Wobei Stalin eine unpräzise Formulierung die Neisse betreffend geschickt ausnutzte.

Nein, ich beziehe mich nicht auf einen Krieg, sondern auf den (langsamen) Beginn der Schikanen, Boykotte,Vertreibungen, Zwangsarbeiten, Todesmärsche usw. Je nachdem, wann man den „Anfang“ setzen will auf 1913/14/15.

Das fällt, gemeinsam mit dem Völkermord an den Armeniern, zeitlich in den Bereich Ende des zweiten Balkankriegs, Beginn des Ersten Weltkriegs.
Jedenfalls deutlich vor den Griechisch-Türkischen Krieg, den Albarracin angesprochen hatte.

Gruß
F.

Hallo,

auch die Zeit vor 1918 eignet sich nicht für einseitige Schuldzuweisungen.
Vielmehr ist der Balkan seit dem frühen 19. Jahrhundert bis heute ein Musterbeispiel für die aggressive Inhumanität des übersteigerten, fanatischen, ausschließenden Nationalismus’, der sich auch in dieser Region seltsamerweise oft weniger an Sprache und Kultur, sondern an Religion als alleinigem Unterscheidungsmerkmal orientiert.
Alle Beteiligten haben immer wieder versucht, mit Eroberungskriegen, Vertreibungen, Pogromen und kulturellen, sprachlichen, religiösen Zwangsassimilationen ihre nationalistischen Träume von „Groß“-Irgendwas zu verwirklichen.
Minderheiten waren in allen Ländern nicht akzeptiert und wurden mehr oder weniger ausgegrenzt. Zumindest zeitweilige Versuche der physischen Vernichtung von Minderheiten gab es nahezu auf allen Seiten.

Das Beharren auf irgendwelchen Opferrangfolgen befeuert letztendlich nur die alte, friedensuntaugliche nationalistische Logik, wie auch der Link zu den Pontosgriechen zeigt. Es verschleiert aber die Strukturen und Prozesse, die zu diesen, bis heute andauernden Problemen führen. Das gilt gerade auch für die Rolle der nicht direkt beteiligten europäischen „Großmächte“, die alle ständig versuchten, in der Region Einfluß zu gewinnen bzw. zu erhalten und völlig skrupellos die nationalistischen Konflikte schürten.
Letztendlich gab es unter allen beteiligten Täter und Opfer in sehr hoher Zahl.

4 Like

Auch von mir ein „gefällt mir“ für die gute Argumentation …

Ich denke aber, es geht ja eh nicht darum, hier die „Schuldfrage“ zu klären.

Jedenfalls kann man die Geschehnisse in der Türkei in den 10er und 20er Jahren nicht auf Kriegshandlungen reduzieren, schon allein deshalb nicht, weil ganz eindeutig benennbare ideologische Haltungen den Hintergrund dafür darstellen.
Dass Genozide wohl meistens zu Kriegszeiten entstehen und nicht aus dem heiteren Himmel heraus, hat damit ja nichts zu tun.

Natürlich muss man klar sagen, dass viel Symmetrie im Spiel ist, weil z.B. eine ähnliche nationalistische Raserei wie in der Türkei auch in Griechenland (und vielen anderen Staaten und Ethnien der Großregion) vorhanden war. Da hast du ja vollkommen recht.

Unterm Strich bleibt aber, dass es meines Wissen im Zeitraum 1913-1919, also vor dem Griechisch-Türkischen Krieg und dem euphemistisch-verlogen so genannten „Bevölkerungsaustausch“, unter den Türken in Griechenland bei weitem nicht diese hohe Zahl an Ermordungen (auch prozentual nicht) gab wie unter den Griechen in der Türkei.

Ich finde nicht, dass das als müßiges Opferzahlen-Aufrechnen abgetan werden sollte, weil es ja nicht um bloße Zahlenvergleiche geht, sondern um die Qualität der Geschehnisse.

Und vor allem geht es darum, warum den Pontosgriechen (ich nutze der Einfachheit halber diesen Begriff, obwohl er m.E. nicht perfekt passt) mehr oder minder der Opfer-Status vorenthalten wird.
Diese Pontosgriechen waren Türken und sind als „Griechen“ in der Türkei verfolgt, ermordet und vertrieben worden. Wie TomH schon erwähnt hat, sind die verbliebenen Nachfahren heute Griechen in Griechenland und gelten dort als „Türken“ (obwohl m.W. sehr stark assimiliert).
Es ist jedenfalls (in Überresten bis heute) eine eigene Gruppierung, die damals in der Türkei schlicht und einfach ausgelöscht werden sollte.

Die Pontosgriechen mögen auch Hypernationalisten gewesen sein, wie die zeitgleich vernichteten Türkei-Armenier auch, aber die können nichts dafür, dass es in Griechenland (und den anderen Länderen der Großregien) den gleichen Hypernationalismus wie in der Türkei gab.
Hier besteht einfach keinerlei Symmetrie. Die türkische Mehrheitsbevölkerung hat mehrere ethnischen Minderheitsgruppen ausgelöscht, darunter die Pontosgriechen. Das ist der Punkt aus meiner Sicht.

Gruß
F.

Hi!

Die große Problematik bei diesem Thema ist die Tatsache, dass zu dieser Zeit bzw. in der Zeit vor (während und kurz danach) dem ersten Weltkrieg dieses Phänomen weiltweit auftauchte, seien es nun die Kongogräuel (bzw. generelle Genozide der Europäer - Deutsche, Engländer, Franzosen, Niederländer, …- in Afrika), die Indianerkriege in Nordamerika, die Völkermorde im Nahen Osten (die schon eher

Auch der Hintergrund des zerfallenen osmanischen Reiches mitsamt seinen aus Europa vertriebenen Muslimen (remember Balkankriege), dem dazugehörigen erstarken der „Jungtürken“ und deren Unterstützung durch das deutsche Reich (und dem darauffolgendem Abdriften in Richtung Nationalismus) , u.v.m. darf nicht ganz außer acht gelassen werden.
Erst mit Atatürk kam dann eigentlich Ruhe in das Gebiet …

Der Balkan (inkl. Türkei) war (und ist eigentlich noch immer) ein Pulverfass, dass schon mal den Ausbruch eines Weltkrieges mitinszenierte.

Warum die Thematisierung in der Öffentlichkeit fehlt?
Das liegt einerseits an den Griechen selber (erst in den 1990ern anscheinend politisch relevant geworden), andrerseits wurde dieser Genozid bspw. in den Niederlanden und in Österreich sehr wohl „anerkannt“.

Grüße,
Tomh

PS: Erst durch etwas Recherche weiß ich selbst erst seit heute, dass dies als Genozid eingestuft wurde.

1 Like

Darüber sind wir uns völlig einig,

Einige andere Ländern haben es scheinbar auch noch „anerkannt“, aber allein die Reaktion hier zeigt, wie verblüffend diese Nicht-Thematisierung ist. Wir sprechen von 300-700.000 Ermordeten und der Bevölkerung eines (heutigen) EU-Staates.

Gruß
F.