Hallo Markus,
letztens war ich in einem Motorradladen. Dort habe ich eine Maschine von YAMAHA gesehen und sie, weil sie mir gut gefiel, von vorne fotografiert (so, daß auf dem Bild unter anderem das Vorderrad, die Vorderlampe und der Lenker zu sehen ist).
Nachdem ich die Aufnahme gemacht habe, merkte ich, daß ich das Motorrad versehentlich in einem Spiegel gesehen und fotografiert habe (was einem nicht so alles passiert…). Also habe ich den Platz aufgesucht, wo die Maschine stand, und habe dort ein weiteres, „direktes“ Frontalfoto von ihr gemacht.
Zuhause habe ich beide Bilder ausgedruckt. Auf das direkt aufgenommene habe ich mit Filzstift „Foto A“ geschrieben, und auf das Spiegelbild-Foto „Foto S“.
In dem Moment kommt mein alter Kumpel Kalle herein. Er sieht die Fotos auf dem Tisch, und es entspinnt sich folgender Dialog:
Kalle: „Wow, geiler Flitzer!“
Ich: „Ja!“
Kalle: „Hoppla, wie ich sehe sind die Fotos nicht gleich.“
Ich: „Wie kommst Du darauf?“
Kalle: „Na, guck Dir doch den Schriftzug mit dem Namen des Herstellers an. Auf dem hier [zeigt auf Foto A] lese ich „YAMAHA“, was mich nicht erstaunt, denn es ist ja eine YAMAHA-Maschine, aber auf diesem Bild hier [zeigt auf Foto S] lese ich „AHAMAY“. Foto S ist also seitenvertauscht gegenüber Foto A“. Hast Du in Deinem Bildbearbeitungsprogamm den Menüpunkt „mirror image“ angeklickt?"
Ich: „Nein, ich habe das Bildbearbeitungsprogramm gar nicht aufgerufen, sondern die Fotos direkt von der Kamera ausgedruckt“.
Kalle: „Was ist dann der Grund für die Seitenvertauschung von Bild S?“
Ich: „Du wirst lachen, ich hab Foto S ohne es zu merken durch einen Spiegel aufgenommen. Also das Spiegelbild der Maschine fotografiert“.
Kalle: „Das muss aber ein seltsamer Spiegel gewesen sein.“
Ich: „Warum?“
Kalle: „Weil er offensichtlich die Eigenschaft hat, links und rechts zu vertauschen, aber nicht oben und unten. Sieh: Ich lese auf Deinem Foto S „AHAMAY“, aber die Lampe der Maschine ist richtigerweise oben, und der Reifen richtigerweise unten. Der Spiegel war bestimmt in einer Richtung gewölbt, hatte also die Oberfläche eines Zylinders, oder so?“
Ich: „Nein.“
Kalle: „Wie ‚nein‘?“
Ich: „Es war ein ebener Spiegel.“
Kalle: „Du willst mich auf den Arm nehmen?“
Ich: „Es war wirklich ein ebener Spiegel.“
Kalle: „Das ist unmöglich. Denn schließlich ist ein ebener Spiegel ja symmetrisch bezüglich des „rechts-links“- und des „oben-unten“-Paars. Deshalb kann er nicht links-rechts vertauschen, aber oben-unten unvertauscht lassen?“
Ich: „Ich schwöre bei meinem Führerschein, daß es ein ebener Spiegel war.“
Kalle: „Dann bin ich aber mal auf Deine Erklärung gespannt. Wie soll ein ebener Spiegel es schaffen können, rechts und links zu vertauschen, aber nicht oben und unten?“
Ich: „Der Spiegel tut was ganz bestimmtes, und was ganz bestimmtes anderes tut er nicht.“
Kalle: „Hä???“
Ich „Er führt eine bestimmte mathematische Operation durch, und eine andere nicht.“
Kalle: „Sorry, aber das ist mir zu hoch.“
Ich: „Bleib cool. Das kann jeder kapieren. Bevor wir aber darüber nachdenken, was der Spiegel in dem Motorradladen getan hat und was nicht, überlegen wir uns erst einmal, was ein Spiegelbild zeigen würde, wenn es ein Spiegel wäre, der ‚gar nichts‘ tut. Wir fangen also sozusagen ‚ganz unten‘ beim einfachsten an.“
Kalle: „Hört sich vernünftig an“.
Ich: „Paß auf: Wenn der Spiegel in dem Motorradladen ‚gar nichts‘ getan hätte, dann würdest Du auf dem Foto die Maschine von hinten sehen.“
Kalle: „Logisch. Aber so einen Spiegel gibt es doch gar nicht.“
Ich: „Das stimmt, spielt aber im Moment keine Rolle.“
Kalle: „Und wie weiter?“
Ich: „Nun denken wir uns einen weiteren Spiegel aus.“
Kalle: „Aha, und welchen?“.
Ich: „Einen Hundertachtzig-Grad-Dreh-Spiegel“.
Kalle: „Mhh…, laß mich überlegen. Angenommen, der Spiegel in dem Laden wäre ein solcher gewesen. Was wäre dann auf dem Foto zu sehen? Ich stelle mir zuerst vor, ich stünde hinter der Maschine. Denn das ist immer die Ausgangssituation, die dem Tut-Garnichts-Spiegel entspricht. Anschließend drehe ich die Maschine um 180° um ihre vertikale Achse herum, so, daß ich sie dann von vorne sehe. Genau das, was ich dann sehe, würde das Foto zeigen, wenn Du es durch den Hundertachtzig-Grad-Dreh-Spiegel aufgenommen hättest“.
Ich: „Kalle, Du bistn echter Checker. Das ist absolut richtig.“
Kalle: „Ein ebener Spiegel ist aber kein Hundertachtzig-Grad-Dreh-Spiegel.“
Ich: „Weil…?“
Kalle: „…weil ich auf dem Foto, das jemand durch einen Hundertachtzig-Grad-Dreh-Spiegel aufgenommen hätte, „YAMAHA“ lesen würde. Aber auf Deinem Foto S hier auf dem Tisch lese ich „AHAMAY“.“
Ich: „Wieder richtig. Ein ebener Spiegel ist kein Hundertachtzig-Grad-Dreh-Spiegel“.
Kalle: „Ich wüßte aber, wie man einen ebenen Spiegel charakterisieren könnte. Man könnte ihn beschreiben als Hundertachtzig-Grad-Dreh-plus-RL-Vertausch-Spiegel. Dann kommts genau hin: Ich würde „AHAMAY“ lesen!“
Ich: „Auch das stimmt“.
Kalle: „Dann haben wir doch aber hier unser Problem. Wenn ich einen ebenen Spiegel beschreiben kann als Hundertachtzig-Grad-Dreh-plus-RL-Vertausch-Spiegel, dann hat dieser Spiegel unbestreitbar was Asymmetrisches an sich. Im Grunde sind wir keinen Schritt weitergekommen; im Gegenteil: wir müssen hier die Frage
‚wieso vertauscht ein ebener Spiegel rechts mit links, aber nicht oben und unten‘ erneut stellen, ohne sie beantworten zu können“.
Ich: „Da hast Du ganz recht. Aber diese Vorbereitung diente auch dem Zweck, daß Du die Antwort, die ich Dir jetzt gebe, besser verstehen kannst.“
Kalle: „Wie lautet sie denn?“
Ich: „Sie lautet: Ein ebener Spiegel ist gar kein Hundertachtzig-Grad-Dreh-plus-RL-Vertausch-Spiegel!“
Kalle: „Moment mal!!! Vorhin hat sich das aber noch ganz anders angehört?!?“
Ich: „Ja. Aber lass es Dir erklären.“
Kalle: „Ich bitte darum.“
Ich: „Gestern hast Du zwei Zündkerzen gekauft.“
Kalle: „Yepp“.
Ich: „Würdest Du sagen, daß der Verkäufer Dir zuerst die eine und dann die andere verkauft hat?“
Kalle: „Nein, so wars nicht. Der Typ hat mir einfach zwei Zündkerzen verkauft. Es war nur ein Kauf.“
Ich: „Aber wenn er Dir zuerst die eine und dann die andere verkauft hätte – das Ergebnis wäre dasselbe gewesen!“
Kalle: „Natürlich wäre die Wirkung am Ende dieselbe gewesen: Ich hätte den Laden mit zwei Zündkerzen verlassen. Aber was willst Du mir damit eigentlich sagen?“
Ich: [schweigen]
Kalle: „Du meinst, ein ebener Spiegel ist in dem Sinne kein Hundertachtzig-Grad-Dreh-plus-RL-Vertausch-Spiegel, wie der Verkäufer mir nicht zuerst die eine und dann die andere Zündkerze verkauft hat, sondern beide innerhalb eines Kaufvorgangs.“
Ich: „So ist es.“
Kalle: „Aber was tut der Spiegel dann, wenn er nicht ‚zweischrittig‘ erst um 180° dreht und dann rechts und links vertauscht? Was ist das, was er ‚einschrittig‘ tut???“
Ich: „Er vertauscht vorne mit hinten!“
Kalle: „Mann, das ist ja voll krass. Ich verstehe. Der Typ hat mir nicht zuerst die eine und dann die andere Zündkerze verkauft. Er hat mir beide in einem Vorgang verkauft. Ein ebener Spiegel dreht nicht um 180° um und vertauscht dann rätselhafterweise rechts und links, aber nicht oben und unten. Nein, er vertauscht vorne und hinten. Ein Hundertachtzig-Grad-Dreh-plus-RL-Vertausch-Spiegel hat dieselbe Wirkung wie ein Vorne-Hinten-Vertausch-Spiegel, aber ein ebener Spiegel ist kein Hundertachtzig-Grad-Dreh-plus-RL-Vertausch-Spiegel, sondern ein Vorne-Hinten-Vertausch-Spiegel. Tatsächlich: Damit hat sich das Paradoxon aufgeklärt, weil die Vorne-Hinten-Richtung kein Asymmetrieproblem aufwirft. Du hast mir also keinen Quatsch erzählt: Foto S zeigt wirklich das Spiegelbild eines ebenen Spiegels.“
Ich: „Ich glaub, jetzt trinken wir erstmal ein Bier.“
Gruß
Martin