Spiegel rechts links Vertauschung [sehr lang]
Hallo Markus.
„Warum vertauscht ein Spiegel links und rechts,
aber nicht oben und unten?“
Unser erster Schritt besteht darin, zu prüfen, ob die in dieser Frage gemachte Behauptung auch wahr ist. Dazu müssen wir uns ein Verfahren überlegen, mit dem wir beweisen können, daß ein (ebener) Spiegel links und rechts, aber nicht oben und unten vertauscht.
Wie fangen wir an? Das mindeste, was wir benötigen, ist offensichtlich irgendein rechts-links-asymmetrisches Objekt, sowie einen Spiegel. Als „Objekt“ bietet sich ein Wort an. Einige Buchstaben haben sogar die Eigenschaft, nicht nur rechts-links-asymmetrisch, sondern auch oben-unten-asymmetrisch zu sein (F, L, R). Vielleicht erweist sich dies später als nützlich. Wir wollen das Wort „LAYER“ nehmen. Es hat den Vorteil, daß wir alle vier Richtungen (*relativ* zu diesem Wort!) leicht beschreiben können: „L -> R“-Richtung, „R -> L“-Richtung, „A“-Richtung („A“ als Pfeilspitze ansehen), „Y“-Richtung (oberen Teil des „Y“ als Pfeilspitze ansehen).
Um das Wort LAYER zu „materialisieren“, schreiben wir es einfach auf ein Stück Papier. Das können wir dann nach Lust und Laune auf den Tisch legen oder aufrecht stellen (Klebeband benutzen). Wir können es auch aufrecht stellen und dann um 90° kippen, so daß wir den Kopf neigen müssen, um das Wort zu lesen. Wir können es ferner nur um 45° kippen, was in einer schiefen Schrift resultiert. Schließlich können wir es sogar mit der Schrift *nach unten* auf den Tisch legen, oder es „um 180° gedreht“ aufstellen. In diesen beiden Fällen sehen wir die Schrift in der Blickrichtung Papierrückseite -> Papiervorderseite. Lesen können wir das Wort dann allerdings nicht, egal wie wir den Kopf neigen.
Nun haben wir eine asymmetrische Struktur und einen Spiegel zur Verfügung. Was sollen wir damit tun? Wir müssen beide Objekte „irgendwie“ zueinander positionieren. Das können wir prinzipiell auf viele verschiedene Arten bewerkstelligen, aber wir wollen die einfachste und naheliegendste wählen. Dazu stellen wir das LAYER-Schild aufrecht vor uns auf den Tisch, so daß wir das Wort „LAYER“ darauf lesen können („Richtig herum“-Aufstellung),
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und den Spiegel stellen wir aufrecht zwischen uns und das LAYER-Schild, so daß die reflektierende Seite des Spiegels dem Schild zugewandt ist.
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Wir machen sogleich zwei Feststellungen:
(1) Das Schild und der Spiegel sind parallel zueinander.
(2) Wir sehen die Rückseite des Spiegels.
Nun interessiert uns aber nicht die Rückseite des Spiegels, sondern das, was der Spiegel zeigt. Wir wollen schließlich herausfinden, wie das Spiegelbild des Wortes „LAYER“ auf dem Schild aussieht.
Um in den Spiegel zu blicken, müssen wir ihn um 180° umdrehen. Dazu müssen wir uns zuerst für eine Drehachse entscheiden. Diese Achse muss in der Spiegelebene liegen. Davon gibt es unendlich viele. Welche davon sollen wir nehmen? Da uns dazu nichts Gescheites einfällt, und wir nicht faul sein wollen, probieren wir einfach sehr viele Achsen aus. Dabei stellen wir fest, daß das Ergebnis stets ernüchternd ist: Wir sehen nicht das Spiegelbild des LAYER-Schildes, sondern das unseres Gesichts.
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Was ist schiefgelaufen? Klar: Wir haben das LAYER-Schild vergessen! Das müssen wir mitdrehen! Versuchen wir unser Glück erneut. Damit wir das „LAYER“-Schild ja nicht wieder vergessen, schrauben wir den Spiegel und das Schild einfach mit vier kleinen Messingschrauben auf ein Sperrholzbrett. Damit stellen wir sicher, daß beide Gegenstände immer ihre räumliche Lage relativ zueinander beibehalten. Wir drehen künftig stets nur das, was wir drehen können – das ganze Brett.
Also los, drehen wir das Brett, um endlich das Spiegelbild der LAYER-Schrift zu erblicken. Wiederum sehen wir uns mit der Frage konfrontiert, um welche Achse wir drehen sollen. Und wieder probieren wir mangels besserer Ideen einfach sehr viele von allen in der Spiegelebene liegenden Achsen durch.
Zunächst freuen wir uns: Die Maßnahme mit dem Brett hat Erfolg! Wir können jetzt nach jeder Drehung tatsächlich das Spiegelbild der „LAYER“-Schrift sehen! Sensationell! Aber die Ernüchterung folgt auf dem Fuß: Viele Ergebnisse sind häßlich. Die meisten Drehungen führen nämlich zu einer schiefen Schrift – schief im Original und schief im Spiegelbild. Präziser ausgedrückt: Die „Lauflinie“ der Schrift (und zwar die des Originals und die des Spiegelbildes gleichermaßen), die normalerweise ja „waagerecht“ ist, bildet mit dem Lot meistens keinen rechten, sondern irgendeinen „krummen“ Winkel (z. B. 13.5°). Das ist blöd.
Aber so schnel geben wir natürlich nicht auf. Uns ist nämlich nicht entgangen, daß es genau zwei Achsen gibt, die zu einer exakt waagerechten Laufrichtung der LAYER-Schrift führt:
(1) Die in „Rechts-links“-Richtung verlaufende Achse.
(2) Die in „Oben-Unten“-Richtung verlaufende Achse.
Da sich das „Drehungs-Ergebnis“ (das Spiegelbild der Schrift) also bei diesen beiden speziellen Achsen durch eine besonders große Einfachheit auszeichnet, halten wir es für eine vernünftige Entscheidung, unsere Untersuchung erstmal auf diese beiden Achsen zu beschränken.
Atmen wir also tief durch und widmen wir uns der genauen Exploration der Rechts-links-Achse. Eine Drehung um diese Achse führt dazu, daß das Brett danach auf dem Kopf steht. Der Spiegel und die Schrift hängen am Brett herunter. Die kleinen Messingschrauben werden „auf Zug“ belastet. Aber zur eigentlichen Frage: Wie sieht das Spiegelbild aus?
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Antwort: Das Spiegelbild zeigt die Schrift auf dem Kopf stehend. Das A zeigt nach unten (in die Richtung, in der ein losgelassender Radiergummi fällt) und das Y nach oben (in die Richtung, in der ein Helium-Kirmesballon steigt). Dagegen sehen wir das L nach wie vor (mit „vor“ ist vor der Drehung gemeint) links, und das R sehen wir nach wie vor rechts. Das können wir so beschreiben: Die Schrift im Spiegelbild zeigt nach der Drehung um die Rechts-Links-Achse eine Oben-Unten-„Umgeklapptheit“, aber keine Rechts-Links-„Umgeklapptheit“.
Nach diesem aufregenden Befund sind wir umso gespannter, was die Drehung um die Oben-Unten-Achse hervorbringt. Diese Drehung ist leichter zu bewerkstelligen: Wir müssen dazu das Brett nur aus seiner Ausgangslage um 180° herumdrehen (so wie eine CD, die im Player eine halbe Umdrehung macht). Wir drehen und gucken in den Spiegel.
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Wir sehen das R links und das L rechts. Aber das A zeigt nach wie vor nach oben, und das Y nach wie vor nach unten. Das Spiegelbild zeigt die Schrift rechts-links-seitenverkehrt, aber oben-unten-richtigrum. Wir beschreiben das so: Die Schrift im Spiegelbild zeigt nach der Drehung um die Oben-unten-Achse eine Rechts-Links-„Umgeklapptheit“, aber keine Oben-Unten-„Umgeklapptheit“.
Wir fassen unsere bisherigen Ergebnisse wie folgt zusammen…
Drehachse Ergebnis (Spiegelbild)
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R-L (horizontal) O-U-Vertauschung, keine R-L-Vertauschung
O-U (vertikal) R-L-Vertauschung, keine O-U-Vertauschung
…und notieren zwei Fakten:
(1) Das Spiegelbild weist in beiden Fällen eine Vertauschung auf, die aber jeweils nur ein Richtungspaar betrifft.
(2) Welche Richtung bei der Schrift, die das Spiegelbild zeigt, vertauscht ist, und welche nicht, hängt von der Wahl der Drehachse ab.
Damit kennen wir jetzt die Wirkungen, die die Drehungen um diese Achsen haben, und dürfen diesen Teil unserer Untersuchung als abgeschlossen betrachten.
Also prüfen wir mal, wie wir die Ausgangsfrage „Warum vertauscht ein Spiegel links und rechts, aber nicht oben und unten?“ im Licht von (1) und (2) zu bewerten haben. Dazu können wir jetzt sofort eine Aussage treffen: Die Behauptung, ein Spiegel vertausche rechts und links, aber nicht oben und unten, ist nicht allgemeingültig. Er tut dies nur, wenn unter allen unendlich vielen möglichen Achsen genau eine spezielle ausgewählt wird, nämlich die Oben-Unten-Achse. Ausgewählt durch den Betrachter, nicht durch den Spiegel, wohlgemerkt. Wird dagegen die Rechts-links-Achse gewählt, dann tauscht jeder Spiegel anstandslos oben und unten um, aber nicht rechts und links.
Desweiteren verdient folgender Sachverhalt unsere Beachtung: Bei allen Drehungen, die wir mit dem Brett veranstaltet haben, haben wir nicht nur den Spiegel, sondern auch die Original-Schrift gedreht. Wir waren gezwungen, die Schrift mitzudrehen. Nochmal: Die Schrift wurde gedreht! Von uns! Und wir wissen auch, was dabei passiert ist: Bei der Drehung um die R-L-Achse haben wir oben und unten bei der Schrift (wie beim gesamten Brett) vertauscht, aber nicht rechts-links, und bei der Drehung um die O-U-Achse haben wir rechts und links der Schrift (wei beim gesamten Brett) vertauscht, aber nicht oben und unten.
Das ist ja ein Ding. Heißt das etwa, daß der Spiegel überhaupt nichts tut? Wir haben zu klären, worin seine „Wirkung“ genau besteht. Dazu rufen wir uns ins Gedächtnis zurück, wozu wir die Drehungen überhaupt durchführen mußten: Wir mußten dafür sorgen, daß vorne und hinten vertauscht wird, damit wir das Spiegelbild überhaupt sehen konnten. Vorne und hinten? Offensichtlich kommt hier das dritte Richtungspaar ins Spiel! Wir überlegen weiter. Bei beiden Drehungen war es so, daß die Seite des Papiers, auf die wir „LAYER“ geschrieben haben, vorne war (wir sahen die Rückseite des Papiers). Aber als wir in den Spiegel gesehen haben, haben wir gleichsam „von hinten“ auf ebendiese in der Realität vorne befindlichen Schriftseite des Papiers geblickt! Genau dies berechtigt jedoch zu der Aussage, daß der Spiegel vorne und hinten vertauscht, wenn wir uns darauf verständigen, daß vorne und hinten dabei durch die Achse festgelegt wird, die senkrecht auf der Spiegelebene und senkrecht auf der Papierebene steht.
Wir spinnen das noch etwas weiter. Ein Mensch namens Kalle möge ein T-Shirt tragen, auf das sein Name gedruckt ist. Er steht vor seinem Wandspiegel in der Diele und sieht hinein. Den Namen auf seinem T-Shirt kann er weder im Spiegel noch im Original lesen, weil er „hinter“ der Schrift steht. Seine Freundin Eva kann es, aber nur, wenn sie vor ihm (zwischen dem Spiegel und ihm) steht, mit ihrem Gesicht seinem zugewandt. Um nun das Spiegelbild der Schrift zu sehen, ist Eva gezwungen, sich um 180° zu drehen. Dazu hat sie genau wie wir bei unseren Versuchen zwei Möglichkeiten. Möglichkeit 2: Sie dreht sich um die Oben-unten-Achse. Das ist die, die durch ihre Wirbelsäule verläuft. Bei dieser Drehung dreht sie relativ gesehen auch die Schrift herum, wobei sie nur rechts-links, aber nicht oben-unten vertauscht. Der Spiegel vertauscht keine dieser Richtungen, er zeigt Eva einfach das Ergebnis der von ihr durchgeführten Vertauschung. Möglichkeit 1: Eva wählt die Rechts-Links-Achse und macht vor Kalle einen Kopfstand! Auch bei dieser Drehung dreht sie relativ gesehen die Schrift um, wobei sie jetzt oben-unten, aber nicht rechts-links vertauscht. Wiederum vertauscht der Spiegel keine dieser Richtungen, er zeigt Eva erneut bloß das Ergebnis der von ihr durchgeführten Richtungsvertauschung.
Damit sehen wir uns in der Lage, die Frage
„Warum vertauscht ein Spiegel links und rechts, aber nicht oben und unten?“
zu beantworten. Die Antwort lautet:
Die in dieser Frage gemachte Behauptung ist falsch. Ein Spiegel vertauscht weder rechts mit links, noch oben mit unten. Er vertauscht vorne mit hinten (wobei alle Richtungsbezeichnungen relativ zur Spiegelebene zu verstehen sind - klar). Das „Paradox“ der „einseitigen Vertauschungen“ (rechts-links, aber nicht oben und unten, oder umgekehrt) kommt dadurch zustande, daß der Betrachter zum Vergleich des Originals mit dem Spiegelbild gezwungen ist, sich umzudrehen. Dabei vertauscht er ein Richtungspaar, während das andere unangetastet bleibt. Welches Richtungspaar von der Vertauschung betroffen ist, entscheidet nicht der Spiegel, sondern der Betrachter durch die Wahl der Drehachse. Nicht der Spiegel verhält sich RL/OU-asymmetrisch, sondern derjenige, der hineinsehen will, verhält sich RL/OU-asymmetrisch, wenn er sich umdreht, um das Spiegelbild des Objekts sehen zu können.
Gruß
Martin