Was ist Gouvernementalität (Foucault)?

Nachdem ich jetzt schon etliche Sekundärliteratur zu Foucaults Begriff der Gouvernementalität gelesen habe, ist mir leider immer noch nicht ganz klar, was das ist (und ich hab übermorgen mündliche Abschlussprüfung…).

Kann man unter Gouvernementalität die verschiedenen Machtformen des Regierens in der modernen Gesellschaft bezeichnen, u.A. die Disziplinarmacht, die Bio-Macht, die Souveränitätsmacht etc.? Irgendwie sind es aber wohl auch die verschiedenen Führungsformen wie Führung von Individuen und Kollektiven, Fremd- und Selbstführung etc.

Wenn mir jemand helfen kann, dann bitte so einfach wie möglich den Begriff versuchen zu erklären! Danke!

Staatsmacht vs. individuelle Freiheit
Hi Butterblümchen.

„Gouvernementalität“ ist eine Zusammenfügung aus gouvernement und mentalité (was du ja sicher weißt). Es geht Foucault dabei darum, dass das Regiertwerden nicht nur auf äußerlichen Zwängen basiert, sondern auch auf Techniken der Selbstbeherrschung der regierten Individuen (Selbstverantwortung usw.). Historisch entstand diese Mischform im 17. Jahrhundert im Zuge der philosophischen Aufklärung und der Etablierung des Liberalismus.

Der Begriff bedeutete in den 70ern einen Wandel in Foucaults Konzeption der Macht. Regieren heißt jetzt nicht mehr nur: auf die Individuen Macht ausüben, ihnen eine Herrschaftsform aufzwingen – sondern differenzierter: sie anleiten und lenken zu einem Handeln, das für das Wohl aller am besten ist.

Im 17. Jahrhundert musste man dafür den Individuen, inspiriert durch die neue Philosophie der persönlichen Freiheit, einen relativen Freiraum zugestehen, an dem die staatliche Macht ihre Grenze hat.

Foucault hält die Gouvernementalität also für eine Machtform, „die nur durch die Freiheit und auf die Freiheit eines jeden sich stützend sich vollziehen kann“ (Geschichte der Gouvernementalität Bd. 1, 79).

Hier geht es also um das Verhältnis vom Ganzen und seinen Teilen. Das Ziel das Staates wird gefährdet, wenn dieser Staat im Verhältnis zu den regierten Individuen übermächtig ist. Der Staat muss ihnen, also seinen Teilen, ein gewisses Maß an Freiheit garantieren und setzt sich damit selbst eine Grenze.

Wichtig ist, dass Foucault mit diesem Konzept seine Kritik an der Macht relativiert. Macht ist nicht mehr prinzipiell etwas Negatives, sondern relativ zu der Form ihrer Ausübung zu bewerten.

Gruß

Horst

PS. Da ich kein Foucault-Experte bin, bitte ich das Vorangegangene nur als Anregung zu verstehen ohne Garantie für prüfungstaugliche Richtigkeit.

Hallo!

Ich verweise zunächst auf den englischen Wiki-Artikel dazu, der sehr ausführlich ist und (auf den ersten Blick für mich) auch recht korrekt zu sein scheint:
http://en.wikipedia.org/wiki/Governmentality

Darüber hinaus nun einige sinngemäße Definitionen der Gouvernementalität, die ich aus eigenen Exzerpten zu bestimmten Texten Foucaults hier reinkopiere:

Gouvernementalität = Art und Weise, wie die politische Macht Bevölkerungen und Güter verwaltet.

Gouvernementalität = Kontrolle von Körpern, Personen, Bevölkerungen und Gütern.

Gouvernementalität als Vielzahl von Strategien und Taktiken; sie entspringt dabei nicht einer einzelnen Quelle, einem Subjekt.

Gouvernementalität setzt das Recht manchmal als Taktik ein, macht instrumentellen Gebrauch davon, aber genauso auch von der Suspension des Rechts.

Gouvernementalität = Kunst der Verwaltung von Dingen und Personen mittels Taktiken, nicht notwendig Gesetzen, zur Erreichung bestimmter politischer Ziele.

Der Staat ist von der Gouvernementalität abhängig, da die „Taktiken des Regierens“ bestimmen, was zum Staat gehört und was nicht; man kann daher den Staat in seinem Überleben und in seinen Grenzen immer nur von der Gouvernementalität her verstehen.

Kann man unter Gouvernementalität die verschiedenen
Machtformen des Regierens in der modernen Gesellschaft
bezeichnen, u.A. die Disziplinarmacht, die Bio-Macht, die
Souveränitätsmacht etc.?

Es ist bei Foucault nicht sehr eindeutig, ob er hier lediglich unterschiedliche ‚Weisen der Macht‘ denkt oder eine chronologische Abfolge Souveränitätsmacht -> Disziplinargesellschaften -> Gouvernementalität.
Er tut letzteres sicherlich nirgendwo starr und schematisch, aber sicherlich muss man auch sagen, dass Gouvernementalität in dem Maß erstarkt, in dem die Souveränitätsmacht (souveräne Monarchen, souveräne Staaten usw.) schwindet:

  • kein einheitlicher, unteilbarer Sitz/Quelle der Macht mehr, sondern diffuse, sich überlappende, sich widersprechende Quellen und Ziele

  • anderes Verhältnis zum Recht: nicht mehr fraglos über dem Recht stehend, sondern ein instrumenteller Umgang mit dem Recht: Einhaltung, wenns nützlich ist, wenn nicht nützlich, dann Definition eines Ausnahmezustands, der dann quasi sekundär wieder (zeitgemäße) Souveränitätsformen innerhalb der Gouvernementalität hervorbringt (Agambens Paradebeispiel dafür: Guantanamo mit seinen vielen quasi-souveränen Verwaltungsbeamten; die Idee der „Souveränität in der Gouvernementalität und durch die Gouvernementalität“ ist mehr bei Agamben oder auch bei Butler konzeptualisiert, lässt sich aber auch bei Foucault finden.)

  • keine selbstverständliche Legitimation mehr (Gottgnadentum, „Deutsche Nation“ usw.), sondern steter Zwang, sein Tun auf vielfältige Weise zu legitimieren: je diffuser und nichtssagender, desto wirksamer, wobei Wirksamkeit auch das alleine Ziel des Legitimieren ist.

  • nicht mehr das Ziel der (alten) Souveränität: absolute und volle Unterwerfung des Subjekts unter den Souverän, sondern die Schaffung stets neuartiger Anreize für das Subjekt, sich mit der Macht zu arrangieren.


Mit Agamben (und eigentlich ja auch mit Foucault; nur Agamben macht dies expliziter) muss man das KZ (oder das Gefängnis) als das Paradigma der Gouvernementalität bzw. das Paradigma der modernen Gesellschaft verstehen: das Management einer Bevölkerung, das das Recht und die Souveränität als Taktik dafür einsetzt.

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Gouvernementalität und Freiheit
Hi Candide.

Butterblümchen hatte gewiss Probleme, unsere jeweiligen Darstellungen unter einen Hut zu bringen. Ich will mir nicht anmaßen, dieses komplexe Thema (über das du offensichtlich besser informiert bist) zu überschauen, ich will aber den Punkt (Liberalität), auf den meine Darstellung den Akzent legte, nochmal hervorheben, denn er kommt in deiner Darstellung – soweit ich sehe – nicht wirklich zum Vorschein.

Ich zitiere aus der Sekundärliteratur:

„Foucault-Handbuch“, Verlag Metzler, 263-64:

“Da die Staatsraison aber noch dem historischen Rahmen der Souveränität … verpflichtet blieb, läßt sich erst mit dem Aufkommen des Liberalismus von eienr Gouvernementalität im moderen Sinne sprechen. Foucault analysiert den Liberalismus nicht als eine Ideologie oder ökonomische Doktrin, sondern als eine spezifische Regierungskunst, die sich sowohl von dem politischen Universum der Disziiplin wie dem der Souveränität markant unterscheidet. Die liberale Regierung zielt weder auf ein jenseitiges Heil noch auf das Wohl des Staates, sondern bindet die Rationalität der Regierung an ein ihr äußerliches Objekt – die bürgerliche Gesellschaft und der Naturalität der Bevölkerungsprozesse - , wobei die Freiheit der Individuen als kritischer Maßstab des Regierungshandelns fungiert …"

Dann wird etwas eingeschränkt:

„Die liberale Freiheit kann … nicht unbeschränkt gelten, sondern wird einem Sicherheitskalkül unterstellt. Damit die Mechanik der Interessen und die Dynamik des Begehrens keine Gefahr für Indididuen und Kollektivität darstellen, ist es notwendig, „Mechanismen der Sicherheit“ zu etablieren“. Sie sind die Kehrseite und die Bedingung des Liberalismus.“

Zitat Ende.

Foucault selbst nennt diesen Sicherheitsmechanismus auch „Sicherheitsdispositiv“. Das bedeutet einfach, dass Liberalismus sich „rechnen“ muss. Die Kosten der Freiheit müssen in einem adäquaten Verhältnis zum Zweck des Staates stehen (Allgemeinwohl).

Foucault schreibt über die Freiheit, dass sie „nicht nur als Recht der Individuen … gegenüber den Übergriffen und dem Machtmissbrauch des Souveräns oder der Regierung geltend emacht wird, sondern die Freiheit ist nun zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Gouvernementalität selbst geworden“ (Vorlesungen 1978, 79, 506).

Das alles geht zwar einigermaßen konform mit:

nicht mehr das Ziel der (alten) Souveränität: absolute und volle Unterwerfung des Subjekts unter den Souverän, sondern die Schaffung stets neuartiger Anreize für das Subjekt, sich mit der Macht zu arrangieren.

(wobei hier aber der Freiheitsaspekt zu kurz kommt)

… widerspricht jedoch zumindest an der Oberfläche diesem Passus:

Mit Agamben (und eigentlich ja auch mit Foucault; nur Agamben macht dies expliziter) muss man das KZ (oder das Gefängnis) als das Paradigma der Gouvernementalität bzw. das Paradigma der modernen Gesellschaft verstehen: das Management einer Bevölkerung, das das Recht und die Souveränität als Taktik dafür einsetzt.

Inwiefern nun das liberalistische System (gemäß Foucaults Begriff der G.) mit dem KZ vergleichbar ist, bleibt mir verborgen. Foucault selbst schreibt doch (in den zitierten Vorlesungen), dass „die Freiheit ist nun zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Gouvernementalität selbst geworden“.

Du wirst mich sicher über diesen Widerspruch erleuchten können :smile:

Gruß

Horst

Lieber Horst!

Foucault selbst nennt diesen Sicherheitsmechanismus auch
„Sicherheitsdispositiv“. Das bedeutet einfach, dass
Liberalismus sich „rechnen“ muss. Die Kosten der Freiheit
müssen in einem adäquaten Verhältnis zum Zweck des Staates
stehen (Allgemeinwohl).

Diesen letzteren Satz, insbesonderen den hier scheinbar affirmativ verwendeten Begriff „Allgemeinwohl“, kann ich überhaupt nicht mit dem Denken Foucaults in Einklang bringen.

Foucault schreibt über die Freiheit, dass sie „nicht nur als
Recht der Individuen … gegenüber den Übergriffen und dem
Machtmissbrauch des Souveräns oder der Regierung geltend
emacht wird, sondern die Freiheit ist nun zu einem
unverzichtbaren Bestandteil der Gouvernementalität selbst
geworden“ (Vorlesungen 1978, 79, 506).

Ja!
Wenn man hier „Freiheitsrechte“ liest, dann habe ich das doch auch so ähnlich geschrieben.
Die Gouvernementalität steht nicht -im Gegensatz zur alten Souveränität- über den Rechten der Individuen, sie taktiert mit ihnen, u.a. auch indem es sie berücksichtigt und gewährt - wenn von Nutzen für das Bevölkerungsmanagement.

(wobei hier aber der Freiheitsaspekt zu kurz kommt)

Ich wüsste nicht, wo Foucault ein spezieller Denker der politischen Freiheit wäre.

… widerspricht jedoch zumindest an der Oberfläche diesem
Passus:

Mit Agamben (und eigentlich ja auch mit Foucault; nur Agamben macht dies expliziter) muss man das KZ (oder das Gefängnis) als das Paradigma der Gouvernementalität bzw. das Paradigma der modernen Gesellschaft verstehen: das Management einer Bevölkerung, das das Recht und die Souveränität als Taktik dafür einsetzt.

Inwiefern nun das liberalistische System (gemäß Foucaults
Begriff der G.) mit dem KZ vergleichbar ist, bleibt mir
verborgen.

I ) Zuerst zwei Dinge:

  1. Lass uns von „Gefängnis“ sprechen, nicht von KZ (letzteres ist Agambens Twist, den ich übermütigerweise einbrachte, nicht der von Foucault)
  2. Lass uns bitte nicht Gouvernementalität=Liberalismus denken; das ist zu kurzschlüssig, weil die beiden Begriffe auf zwei völlig unterschiedlichen epistemischen Ebenen (im Sinne der Bedeutung des episteme-Begriffs bei Foucault!) sich befinden.

II ) Die Entsprechung besteht im Aspekt des taktischen Bevölkerungsmanagements;
der Verteilung der Körper im Raum, der effizienten und unsichtbaren Überwachung, der Befriedung des Raumes, der Verhinderung von Aufständen, des Gegeneinander-Ausspielens der Bevölkerungssegmente, dem Etablieren von Anreizsystemen usw.

III) Ich verweise auf „Überwachen&Strafen“ (1976), wo Foucault eine Genealogie der modernen Gesellschaft durchführt - und zwar 1.) anhand der vier institutionellen Bereiche Gefängnis, Fabrik, Schule, Krankenhaus, wobei er ganz offensichtlich 2.) die letzten drei so analysiert als wären es Gefängnisse, also damit das Gefängnis als Paradigma setzt.

IV) Es gibt bei Foucault auch explizite Aussagen, dass die moderne Gesellschaft nach dem Muster eines Gefängnisses funktioniert (ich müsste diese suchen);
in der Sekundärliteratur wird z.B. hier:
http://www.amazon.de/Das-Individuum-Gesellschaft-Syn…
dem Vergleich der Konzeptualisierungen der modernen Gesellschaft als „Freiluftgefängnis“ (Adorno) und als „Kerker-System“ (Foucault) ein ganzes Kapitel gewidmet.

Foucault selbst schreibt doch (in den zitierten
Vorlesungen), dass „die Freiheit ist nun zu einem
unverzichtbaren Bestandteil der Gouvernementalität selbst
geworden“.

Ja, unbestritten, aber was heißt das?

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Nachtrag mangels Editfunktion
Das wollte ich eigentlich noch mitnehmen, weil es zum gleichen Themenkomplex gehört, und weil ich schon gestern gestutzt habe:

Wichtig ist, dass Foucault mit diesem Konzept seine Kritik an
der Macht relativiert. Macht ist nicht mehr prinzipiell
etwas Negatives

Wann (abgesehen vielleicht von seinem Frühwerk "Psychologie und Geisteskrankheit, 1954) hatte Foucault denn Macht als etwas prinzipiell Negatives verstanden?
Ich denke, nie.
Im Gegenteil war doch die Betonung der Produktivität der Macht sein Punkt schlechthin - in kritischer Abgrenzung zu den vielen Formen der sog. „Repressionshypothese“ (die er in „Sexualität und Wahrheit I“ breit ausführt), derzufolge die Macht tatsächlich rein negativ zu verstehen ist, als reines Restringieren/Unterdrücken/Ausmerzen.

Gouvernementalität und ‚Allgemeinwohl‘
Hi Candide.

Aus Zeitmangel gehe ich nur auf deinen ersten Passus ein, mehr folgt aber morgen.

Die Kosten der Freiheit müssen in einem adäquaten Verhältnis zum Zweck des Staates stehen (Allgemeinwohl).

Diesen letzteren Satz, insbesonderen den hier scheinbar affirmativ verwendeten Begriff „Allgemeinwohl“, kann ich überhaupt nicht mit dem Denken Foucaults in Einklang bringen.

Dachte ich auch so, bis die Fragestellung mich auf Foucaults Wende in den 70ern stieß. Hier eine von mir (im Hinblick auf deine zu erwartende Antwort) zusammengestellte Zitatenreihe aus:

Foucault, Schriften, Bd. 3, Die Gouvernementalität (Vortrag 1978), 809-820 (liegt mir gerade hier in der größten öffentlichen Bibliothek von Bayern vor - über 1 Mio Bücher)

Du wirst schnell entdecken, was ich mit „Allgemeinwohl“ sagen wollte (Entsprechendes habe ich hervorgehoben).

„Meines Erachtens haben wir es mit einem wichtigen Bruch zu tun. Während der Zweck der Souveränität in ihr selbst liegt …, liegt der Zweck der Regierung in den von ihr geleiteten Dingen. … Die Entwicklung der Wissenschaft vom Regieren machte es möglich, die Ökonomie auf ein bestimmtes Realitätsniveau hin, das wir jetzt als ´ökonomisch´ bezeichnen, neu auszurichten … Zweitens tritt die Bevölkerung als das schlechthin letzte Ziel der Regierung hervor. Denn was kann, im Grunde genommen, das Ziel der Regierung sein? Gewiss nicht zu regieren, sondern DAS LOS DER BEVÖLKERUNGEN ZU VERBESSERN, ihre Reichtümer, ihre Lebensdauer und ihre Gesundheit zu MEHREN … Unter Gouvernementalität verstehe ich die Gesamtheit, gebildet aus den Institutionen, den Verfahren, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken, die es gestatten, diese recht spezifische und doch komplexe Form der Macht auszuüben, die als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als Hauptwissensform die politische Ökonomie und als wesentlich technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat.“

Bis morgen

Horst

Lieber Horst!

Foucault, Schriften, Bd. 3, Die Gouvernementalität (Vortrag
1978), 809-820 (liegt mir gerade hier in der größten
öffentlichen Bibliothek von Bayern vor - über 1 Mio Bücher)

ach, du schreibst aus der Stabi.

Du wirst schnell entdecken, was ich mit „Allgemeinwohl“ sagen
wollte (Entsprechendes habe ich hervorgehoben).

Ja, habe ich.
Das war ein Missverständnis meinerseits, wobei „Allgemeinwohl“ vielleicht auch kein guter Begriff war, weil er halt in dieser langen philosophischen Tradition des ‚Allgemeinwohl vs. Partikularwohl‘ steht, der Foucault sicher nicht verpflichtet ist.

Ich kommentiere das Zitat ein wenig, aber hier besteht wohl kein Dissens zwischen uns.

„Meines Erachtens haben wir es mit einem wichtigen Bruch zu
tun. Während der Zweck der Souveränität in ihr selbst liegt
…, liegt der Zweck der Regierung in den von ihr geleiteten
Dingen.

Das entspricht wohl der von mir angeführten „Legitimiationspflicht“ der G. im Gegensatz zur S., die sich keinem Außen legitimieren muss.

… Zweitens tritt die Bevölkerung
als das schlechthin letzte Ziel der Regierung hervor.

Auch das ein wichtiger Punkt, den ich als „Letztziel Bevölkerungsmanagement“ an einigen Orten einführte.

Denn was
kann, im Grunde genommen, das Ziel der Regierung sein? Gewiss
nicht zu regieren, sondern DAS LOS DER BEVÖLKERUNGEN ZU
VERBESSERN, ihre Reichtümer, ihre Lebensdauer und ihre
Gesundheit zu MEHREN …

Klar, auch hier die unbestrittene „Legitimationspflicht“ gegenüber ihrem Objekt, der Bevölkerung;
G.: ‚Das ist alles zu deinem Guten, schau was ich für dich leiste.‘ statt S.: ‚Ich bin der Souverän, ich bin von Gott dafür ausgewählt. Das ist halt so.‘, wo tatsächlich das Regieren Selbstzweck ist.

Unter Gouvernementalität verstehe ich
die Gesamtheit, gebildet aus den Institutionen, den Verfahren,
Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken,
die es gestatten, diese recht spezifische und doch komplexe
Form der Macht auszuüben, die als Hauptzielscheibe die
Bevölkerung, als Hauptwissensform die politische Ökonomie und
als wesentlich technisches Instrument die
Sicherheitsdispositive hat.“

Das Markierte bringt einen Punkt ins Spiel, an dem wir beide vermutlich Foucault unterschiedlich lesen.

Die G. ist fraglos auf Bevölkerungen gerichtet, aber ist sie auf solche Art darauf gerichtet, dass man sie als ‚im Dienste von Bevölkerungen stehend‘ verstehen muss (was dann Begriffe wie Allgemeinwohl, Freiheit, Liberalismus usw. nahelegen würde; was aber m.E. den sehr weiten Foucaultschen Begriff des „Regierens“ viel zu sehr auf staatliche Regierung einengen würde, die man sich als Volk halt nun mal hält und die man auch ablösen könnte)?

Oder muss man sie so verstehen, dass sie mit ihrem Tun Bevölkerungen hervorbringt und verteilt, sie ruhig hält, sie kontrolliert, zähmt und diszipliniert - und das eben mit Mitteln wie staatlichen Wohlfahrtsinstituten, Krankenversicherungen, usw. die dabei natürlich auch die Mehrung von Reichtum, Gesundheit und Lebensdauer leisten bzw. leisten müssen um existieren zu können?

Natürlich geht beides zusammen, und eine Logik im Sinne von „Disziplinierung ist das eigentliche, Allgemeinwohl nur die Rationalisierung dafür“ verbietet sich bei Foucault ja bekanntlich sowieso (auch wenn ich zugegebenermaßen mich desöfteren dabei ertappe, wie ich immer ein bißchen zu sehr zu dieser Lesart neige), weil Foucault dieser ganzen (hier: marxistischen) Latenz-Logik ja stets eine entschiedene Absage erklärte.

Dennoch und deshalb halte ich „Freiheit“ hier für einen sehr schwierigen Begriff sobald es über ‚Freiheit als eine Taktik unter anderen‘ hinausgeht, aber ich bin gespannt, wie du morgen argumentieren wirst.

[Übrigens ist der Souveränitätsmacht eine Ausrichtung auf „Allgemeinwohl“ ja auch nicht fremd, aber aus anderen Gründen; nicht zur Legitimation, sondern als Stolz oder Lust des Souveräns daran, wenn das Objekt seines Tuns blüht und gedeiht.]

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Gouvernementalität und Imaginäre Verdopplung
Hi Candide.

Ich schreibe – meistens – aus der Gasteig-Bibliothek, da hier die Sachen präsent sind, während es in der Bayerischen Stabi (9 Mio Bücher) mehrtägige Wartefristen gibt.

(Foucault:smile: Denn was kann, im Grunde genommen, das Ziel der Regierung sein? Gewiss nicht zu regieren, sondern DAS LOS DER BEVÖLKERUNGEN ZU VERBESSERN, ihre Reichtümer, ihre Lebensdauer und ihre Gesundheit zu MEHREN …

Klar, auch hier die unbestrittene „Legitimationspflicht“ gegenüber ihrem Objekt, der Bevölkerung…

Ok, es gibt zwei Lesarten des G-Konzepts, da Foucault selbst offen gelassen zu haben scheint, ob die G. eine nur auf Schein und Täuschung beruhende Strategie ist, die Bevölkerung zu manipulieren – oder ob ein echtes emanzipatorisches Potential dahinter steckt.

Du favorisierst die kritische Lesart, während ich eine doppelte Lesart (symbolisch/imaginär) vorschlage, auf die ich am Schluss eingehen werde.

Fakt ist: wirklich eindeutig geht aus den Originaltexten nicht hervor, dass Foucault die G. nur und ausschließlich als manipulative Strategie wertet. Vielmehr legen manche Textstellen – ich habe sie schon zitiert – eine zumindest neutrale, wenn nicht affirmative Lesart nahe.

Wenn du kommentierst:

(Foucault:smile: Denn was kann … das Ziel der Regierung sein? Gewiss nicht zu regieren, sondern DAS LOS DER BEVÖLKERUNGEN ZU VERBESSERN…

auch hier die unbestrittene „Legitimationspflicht“ gegenüber ihrem Objekt, der Bevölkerung…

… dann sehe ich im Umfeld der zitierten Stelle (das Buch liegt mir auch jetzt vor) nicht den geringsten Hinweis darauf, dass F. zwischen den Zeilen oder gar offen diese Aussage relativiert, ironisiert oder was auch immer. Vielmehr schreibt (bzw. spricht) er kurz danach:

„Statt als Ausdruck der Macht des Souveräns tritt die Bevölkerung vielmehr als Zweck und Instrument der Regierung hervor“ (Schriften 3, 817).

Es heißt „Bevölkerung = Zweck“ , was bedeutet, dass es keine Zwecke gibt, die jenseits der Interessen der Bevölkerung liegen (z.B. bei den Regierenden oder einer partikularen Gruppe). Dass die Bevölkerung zugleich das Instrument ist, versteht sich. Es g i b t ja nur die Bevölkerung. Diese wird eben „angeleitet“, in ihrem eigenen Interesse zu handeln.

Auf Seite 820-21 heißt es: „Zweitens verstehe ich unter Gouvernementalität die Tendenz oder die Kraftlinie, die im gesamten Abendland unablässig und seit sehr langer Zeit zur Vorrangstellung dieses Machttypus, den wir als Regierung bezeichnen, gegenüber allen anderen – Souveränität, Disziplin – geführt … hat.“

Während der Zweck der Souveränität zirkulär ist – ihr Ziel ist die Selbsterhaltung, das eigene Wohl -, geht es der Regierung (in der Form der G.) um das Wohl der Bevölkerung. Die Mittel zu diesem Zweck sind die politische Ökonomie (ausgerichtet auf das maximale Wohl aller) und die Sicherheitsmechanismen. Das G-Konzept verbindet dabei die äußerlichen Mittel der Kontrolle der Bevölkerung mit der Verinnerlichung von Werten und Zielen durch das einzelne Subjekt (subjektive Selbstkontrolle).

Das Verhältnis zwischen Regierung und Bevölkerung beruht nicht auf Herrschaft, sondern auf einem Vertrag (Rousseau´sche Vertragstheorie).

Ob dies nun alles nur schöner Schein ist oder zumindest potentiell emanzipatorisch, bleibt bei Foucault einfach offen. Seine Texte über die G. sind so oder so interpretierbar. Er bietet einfach eine Röntgenaufnahme an – die Diagnose überlässt er den Lesern.

(ich gehe am Schluss auf diese Frage ein beim Thema „imaginäre Verdopplung“)

Die verwendete Terminologie in seinen Texten entspricht in ihrer Zweideutigkeit dem Interpretationsproblem. Es ist von Sicherheitsmechanismen und Disziplin und Machttechniken die Rede, aber auch von Freiheit – ohne jede spürbare Skepsis oder Ironie.

Foucault schreibt … „die Freiheit ist nun zu einem

unverzichtbaren Bestandteil der Gouvernementalität selbst geworden“ (Vorlesungen 1978, 79, 506).

Wenn man hier „Freiheitsrechte“ liest, dann habe ich das doch auch so ähnlich geschrieben.

Nicht expressis verbis in deinem ersten Posting, wo das Wort „Freiheit“ nicht erscheint. Jedenfalls sehe ich zwischen „Freiheit“ und „Freiheitsrecht“ einen gewissen, nicht unerheblichen Unterschied. Wenn Foucault von Freiheit spricht, dann meint er sie auch – was nicht unbedingt der Fall wäre, spräche er nur vom Recht darauf. Ein Recht könnte auch nur den Schein der Freiheit bedeuten. „Freiheit“ jedoch - und Foucault gebraucht genau diesen Begriff – bedeutet ohne Wenn und Aber: Freiheit.

(wobei hier aber der Freiheitsaspekt zu kurz kommt)

Ich wüsste nicht, wo Foucault ein spezieller Denker der politischen Freiheit wäre.

Ich bezog das auf den in der G. immer mitzudenkenden Freiheitsaspekt (der ja durch die diversen Zitate hinreichend belegbar ist).

Inwiefern nun das liberalistische System (gemäß Foucaults Begriff der G.) mit dem KZ vergleichbar ist, bleibt mir verborgen.

Lass uns bitte nicht Gouvernementalität=Liberalismus denken …

Gemeint war doch nur: „Liberalismus im Kontext des G.-Konzepts“.

Die Entsprechung besteht im Aspekt des taktischen Bevölkerungsmanagements; der Verteilung der Körper im Raum, der effizienten und unsichtbaren Überwachung, der Befriedung des Raumes …
Es gibt bei Foucault auch explizite Aussagen, dass die moderne Gesellschaft nach dem Muster eines Gefängnisses funktioniert.

Da liegt meiner Ansicht nach viel zu wenig „Entsprechung“ vor, die diesen Begriff rechtfertigen könnte . Ein paar strukturelle Ähnlichkeiten machen noch keine Entsprechung. Die gravierenden Unterschiede fallen unter den Tisch. Ich war selbst vor einer guten Weile für über 3 Jahre hinter Gittern (Handel mit 14 kg Cannabis) und weiß, wie groß der Unterschied ist. Von Entsprechung kann aus der Sicht eines „Kenners“ absolut keine Rede sein. Wenn man nach 3 Jahren herauskommt, ist das wie das Betreten eines anderen Planeten.

dem Vergleich der Konzeptualisierungen der modernen Gesellschaft als „Freiluftgefängnis“ (Adorno) …

Als aber die Studentinnen in seinen Vorlesungen ihre Titten zeigten, war er nur empört und geschockt.

Foucault selbst schreibt doch …, dass „die Freiheit … nun zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Gouvernementalität selbst geworden (ist)“.

Ja, unbestritten, aber was heißt das?

Ich meine, das heißt, dass es w i r k l i c h um Freiheit geht, nicht nur um den Schein der Freiheit.
Ich meine auch, man sollte Foucaults Ausführungen zur G. auf zwei Ebenen lesen: einer „symbolischen“ und einer „imaginären“.

Der Begriff der „imaginären Verdopplung“ (wer ihn geprägt hat, weiß ich nicht, vielleicht Zizek) besagt, dass das Symbolische immer auch eine imaginäre Entsprechung hat. Dabei ergibt sich das Problem, dass bei der Interpretation von Personen, Ereignissen oder Zuständen die imaginäre Verdopplung des Symbolischen für das Original bzw. einzig Existente gehalten wird. Beispiel: Vater. Es gibt die (starke) symbolische Position des Vaters und seine imaginäre Entsprechung (der konkrete Vater). Beides kann in eklatantem Gegensatz stehen – wenn der konkrete Vater, also der imaginäre, schwach ist. Oder die Demokratie: sie ist ein symbolisches Konstrukt. Konkret aber kann sie sehr mangelhaft funktionieren. Was ggf. zur bekannten „Demokratieverdrossenheit“ führt. Die Leute erkennen einfach nicht, dass sie nur das imaginäre Doppel verurteilen, wenn sie von „der Scheißdemokratie“ reden.

Ich meine also, dass man auch Foucaults G-Konzept auf diesen beiden Ebenen deuten kann: auf der symbolischen und der imaginären. Ich lese es primär auf der symbolischen, die Skeptiker aber (du wohl auch) auf der imaginären. Warum letzteres, ist klar – sie ist die marxistisch-kritische Optik, und so wichtig sie auch ist, sie darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die modernen politischen Errungenschaften einen substantiellen „symbolischen“ Wert haben (sowie auch einen sehr realen, das ist ohnehin klar).

Sieht man es aber nur kritisch, dann geht dabei der symbolische Aspekt verloren – auf den es Foucault vermutlich ankam.

Sonst hätte er gewiss seine Skepsis der G. gegenüber deutlicheren Ausdruck gegeben.

Am besten lässt sich das Symbolische von seinem imaginären Doppel unterscheiden, wenn man die philosophischen Theorien jener Zeit (der Etablierung der G.) als Matrix dieses Symbolischen nimmt.

(eigentlich sehr unmarxistisch – denn Marx sah in solcher Philosophie ja primär den ideologischen Ausdruck des Willens einer herrschenden Klasse, er wertete sie also als imaginär, nicht als symbolisch)

eine Logik im Sinne von „Disziplinierung ist das eigentliche, Allgemeinwohl nur die Rationalisierung dafür“ verbietet sich bei Foucault ja bekanntlich sowieso (auch wenn ich zugegebenermaßen mich des öfteren dabei ertappe, wie ich immer ein bißchen zu sehr zu dieser Lesart neige) …

Ja, diese Logik wird widerlegt durch die oben zitierte Stelle:

„… verstehe ich unter Gouvernementalität die Tendenz …, die im gesamten Abendland … zur Vorrangstellung dieses Machttypus, den wir als Regierung bezeichnen, gegenüber allen anderen – Souveränität, Disziplin – geführt … hat.“

Dennoch und deshalb halte ich „Freiheit“ hier für einen sehr schwierigen Begriff sobald es über ‚Freiheit als eine Taktik unter anderen‘ hinausgeht, aber ich bin gespannt, wie du morgen argumentieren wirst.

Nun, die Pointe meiner etwas spekulativen Argumentation ist eben das besagte Doppel Symbolisches/Imaginäres.

Genau das ist der Grund, denke ich, für die Divergenzen in den Deutungen des G-Konzepts, die ja längst nicht nur zwischen uns beiden bestehen.

Gruß

Horst

PS. Bis Montag.

Texte als Lesarten und Übersetzungen
Lieber Horst!

Auch wenn sich nicht mal die Fragestellerin für unsere Diskussion interessiert (was ich schade finde, weil wir beide in diesem Thread ausnahmsweise wirklich nahe an der Fragestellung blieben und m.E. auch qualitativ Brauchbares produzierten), antworte ich nochmal ausführlich :wink:

Ok, es gibt zwei Lesarten des G-Konzepts, da Foucault selbst
offen gelassen zu haben scheint, ob die G. eine nur auf Schein
und Täuschung beruhende Strategie ist, die Bevölkerung zu
manipulieren – oder ob ein echtes emanzipatorisches Potential
dahinter steckt.

Auch hier mein Problem: der Emanzipations-Begriff ist so furchtbar un-Foucaultianisch; den verwendet er immer nur kritisch und in Absetzung davon.
Das Problem hatten wir beim Freiheits-Begriff schon.
Dazu unten mehr.

Fakt ist: wirklich eindeutig geht aus den Originaltexten nicht
hervor, dass Foucault die G. nur und ausschließlich als
manipulative Strategie wertet. Vielmehr legen manche
Textstellen – ich habe sie schon zitiert – eine zumindest
neutrale, wenn nicht affirmative Lesart nahe.

Gut, darauf können wir uns einigen.
Übrigens würde sich auch Foucault selbst hier mit uns einigen. Er will sich an solchen Stellen ja gerade nicht festlegen, was man dann auch daran sieht, dass er vom Neo-Faschisten über den Konservativen (Habermas) bis zum Linksradikalen politisch eingeordnet wurde.

„Statt als Ausdruck der Macht des Souveräns tritt die Bevölkerung
vielmehr als Zweck und Instrument der Regierung hervor“ (Schriften
3, 817).
Es heißt „Bevölkerung = Zweck“ , was bedeutet, dass es keine
Zwecke gibt, die jenseits der Interessen der Bevölkerung
liegen …

Langsam …
Der Zweck der Ausübung souveräner Macht liegt jenseits des Objekts, an dem Macht ausgeübt wird, nämlich an der Bevölkerung.

In der Gouvernementalität liegt der Zweck der Machtausübung im Objekt selbst: Macht wird an der Bevölkerung ausgeübt um damit Bevölkerung zu gestalten/hervorzubringen/kontrollieren/etc. (nicht etwa mehr um als absoluter Herrscher Gottes Auftrag zu erfüllen usw.) Mehr heißt das aber erstmal nicht.

Mir ist klar, wor du hier ein „Emanzipationspotential“ siehst, nämlich quasi an der Identität von Macht-Objekt und Macht-Zweck.

Das sehe ich durchaus auch so, und es kommt nicht von ungefähr, dass Agamben und Butler dahingehend kritisch an Foucault anschließen, dass er dabei das Wiederaufkommen der Souveräntität innerhalb der Gouvernementalität übersieht.
Genau mit dieser Kritik wird m.E. vollends deutlich, dass es bei der G. tatsächlich auch um „Emanzipation“ geht - allerdings bestehe ich auf den Anführungszeichen :wink:

Was ich jetzt NICHT mitgehe ist, dass du daraus, dass die Bevölkerung Instrument und Zweck des Regierens wird, folgerst, dass es um die Interessen der Bevölkerung ginge (auf den Begriff des „Wohls“, den du unten anführst, gehe ich nicht mehr separat ein, weil er in die gleiche Richtung zielt.)
Dieser Twist setzt ein Verständnis von Bevölkerung als eine Art Subjekt voraus (nur Subjekte können Interessen haben), was Foucault wiederum sehr fremd ist. Nicht umsonst spricht er von Bevölkerung und nicht von Volk …
Das ist, meine ich, auch ein gravierendes Problem der Übersetzung; man hätte „population“ besser noch mit Population übersetzen sollen, dann wäre die wichtige anti-humanistische Dimension des Begriffs nicht ausgeblendet worden, weil man „Bevölkerung“ im deutschen einfach allzuleicht, zumindest als Konnotation, als „Volk“ liest, das hier gerade nicht gemeint ist.

Das Verhältnis zwischen Regierung und Bevölkerung beruht nicht
auf Herrschaft, sondern auf einem Vertrag (Rousseau´sche
Vertragstheorie).

Ein solche vertragstheoretische Lesart ist m.E. nun definitiv außerhalb des weiten Foucaultschen Orbits.
Erstens ergibt sie nur Sinn, wenn man tatsächlich Bevölkerung als Volk versteht. Das darf man auf keinen Fall.
Zweitens ergibt sie nur Sinn, wenn man Regierung einigermaßen um den Staat zentriert.
Das passt bei Foucault definitiv auch nicht. Auch hier haben wir ganz sicher ein massives Übersetzungsproblem, weil das deutsche „regiert werden“ dem französischen „être gouverné“ jene Sinn-Dimension völlig nimmt, auf die Focault z.B. in „Was ist Kritik?“ auch noch explizit hinweist, nämlich das Nautische des Gubernators, des Steuermanns, der mit Politik&Staat gar nichts zu tun hat.

… bleibt bei Foucault einfach offen.
Seine Texte über die G. sind so oder so interpretierbar. Er
bietet einfach eine Röntgenaufnahme an – die Diagnose
überlässt er den Lesern.

Das unterschreibe ich - bis auf die Ansätze, wo du aus meiner Sicht schlicht zu weit gehst bzw. wo auch die deutsche Übersetzung gerne dazu verführt, zu weit zu gehen.

(wobei hier aber der Freiheitsaspekt zu kurz kommt)

Ich wüsste nicht, wo Foucault ein spezieller Denker der politischen Freiheit wäre.

Ich bezog das auf den in der G. immer mitzudenkenden
Freiheitsaspekt (der ja durch die diversen Zitate hinreichend
belegbar ist).

Schon klar, aber mir ist überhaupt nicht klar, wie ich „Freiheit“ zu verstehen habe;
geht es hier um Freiheit im Gegensatz zur Notwendigkeit (das ist ein Aspekt der für Gouvernementalität vs. Souveränität sicher auch bedeutsam ist)?
geht es um ‚Diskurs-transzendente‘ unveräußerliche Freiheitsrechte der Individuen (m.E. geht es darum in keinster Weise, aber das legt deine vertragstheoretische Sicht oben nahe)?
geht es darum, ‚Diskurs-erzeugte‘ Freiheitsansprüche und Freiheitsempfindungen mit ins gouvernementale Kalkül zu nehmen (m.E. geht es vor allem darum)?

Es gibt bei Foucault auch explizite Aussagen, dass die moderne Gesellschaft nach dem Muster eines Gefängnisses funktioniert.

Da liegt meiner Ansicht nach viel zu wenig „Entsprechung“ vor,
die diesen Begriff rechtfertigen könnte . Ein paar
strukturelle Ähnlichkeiten machen noch keine Entsprechung.
Die gravierenden Unterschiede fallen unter den Tisch.

Wie das gemeint ist, müssten wir direkt an einer Lektüre von „Überwachen&Strafen“ klären, wo Foucault diese Verbindung am stärksten geknüpft hat.
Ich würde es daher hier erst mal zurückstellen, allein weil es nicht als „Entsprechung“ gemeint ist; wenn dann als „Paradigmatizität“.

dem Vergleich der Konzeptualisierungen der modernen Gesellschaft als „Freiluftgefängnis“ (Adorno) …

Als aber die Studentinnen in seinen Vorlesungen ihre Titten
zeigten, war er nur empört und geschockt.

:wink:

Schon, aber was hat das eine mit dem anderen zu tun?

Mir ist schon klar, worauf du hier wohl hinweisen möchtest;
indem man die moderne Gesellschaft als „Freiluftgefängnis“ usw. bezeichnet bzw. konzeptualisiert, läuft man Gefahr, die massiven Unterschiede zwischen dem Leben im Gefängnis und dem Leben draußen auszublenden, zu nivellieren. Das sehe ich auch so.

Foucault selbst schreibt doch …, dass „die Freiheit … nun zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Gouvernementalität selbst geworden (ist)“.

Ja, unbestritten, aber was heißt das?

Ich meine, das heißt, dass es w i r k l i c h um Freiheit
geht, nicht nur um den Schein der Freiheit.

Wie oben gesagt: alle der drei von mir genannten Freiheitsbegriffe (und man könnte zweifellos mehr als drei anführen) referentialisieren wirkliche Freiheiten, keine Scheine.

Ich meine auch, man sollte Foucaults Ausführungen zur G. auf
zwei Ebenen lesen: einer „symbolischen“ und einer
„imaginären“.

Der Begriff der „imaginären Verdopplung“ (wer ihn geprägt hat,
weiß ich nicht, vielleicht Zizek) besagt, dass das Symbolische
immer auch eine imaginäre Entsprechung hat. Dabei ergibt sich
das Problem, dass bei der Interpretation von Personen,
Ereignissen oder Zuständen die imaginäre Verdopplung des
Symbolischen für das Original bzw. einzig Existente gehalten
wird. Beispiel: Vater. Es gibt die (starke) symbolische
Position des Vaters und seine imaginäre Entsprechung (der
konkrete Vater). Beides kann in eklatantem Gegensatz stehen –
wenn der konkrete Vater, also der imaginäre, schwach ist. Oder
die Demokratie: sie ist ein symbolisches Konstrukt. Konkret
aber kann sie sehr mangelhaft funktionieren. Was ggf. zur
bekannten „Demokratieverdrossenheit“ führt. Die Leute erkennen
einfach nicht, dass sie nur das imaginäre Doppel verurteilen,
wenn sie von „der Scheißdemokratie“ reden.

Das wäre eine Sonderdiskussion, da ich die (genuin strukturalistische) Trennung Symbolisches/Imaginäres ums Verrecken nicht voraussetzen mag - wie übrigens Foucault, über den wir hier reden, auch nicht.
Wir hatten das ja schon mal gestreift. In Bezug auf unsere beiden Foucault-Lesarten weise ich diesen Begriffsschematismus jedenfalls zurück, weil er auch nicht Foucault selbst entstammt.

Ich meine also, dass man auch Foucaults G-Konzept auf diesen
beiden Ebenen deuten kann: auf der symbolischen und der
imaginären. Ich lese es primär auf der symbolischen, die
Skeptiker aber (du wohl auch) auf der imaginären. Warum
letzteres, ist klar – sie ist die marxistisch-kritische Optik,

Ich lese Foucault sicher nicht aus marxistischer Sicht, eher noch Marx aus Foucaultianischer Sicht, aber sagen wir mal ganz allgemein, ich lese ihn wohl eher aus einer ideologie- und gesellschaftskritischen Perspektive als du.

Eigentlich lese ich aus biographischen Gründen Foucault wohl hauptsächlich im Sinne von Judith Butlers Foucault-Lektüre, wobei interessanterweise Butler durchaus eine Denkerin der „Emanzipation“ ist und z.B. gegen Foucault der Psychoanalyse jenes Emanzipationspotential wieder zuspricht, das Foucault ihr total abgesprochen hat … alles sehr komplex :wink:

Interessant übrigens in dem Zusammenhang, vielleicht sogar verallgemeinbar, ich vermute es jedenfalls:
Ich habe in meinen 17 Semestern Studium einige Foucault-Seminar besucht, und festgestellt, dass in der Soziologe ein weit „schwärzerer Foucault“ rezipiert wird als in der Philosophie - was natürlich auch damit zu tun hat, dass bei den beiden Disziplinen unterschiedliche Foucault-Texte im Mittelpunkt stehen.

Nun, die Pointe meiner etwas spekulativen Argumentation ist
eben das besagte Doppel Symbolisches/Imaginäres.

Genau das ist der Grund, denke ich, für die Divergenzen in den
Deutungen des G-Konzepts, die ja längst nicht nur zwischen uns
beiden bestehen.

Jetzt muss ich doch kurz darauf eingehen, nachdem du es zu deiner Pointe erklärst.
Die Divergenz der Foucault-Lesarten, die ja -wie du richtig sagst- nicht auf uns beide beschränkt sind, liegt definitiv im Text selbst und nicht auf den beiden Ebenen symbolisch/imaginär.
Letztlich könnte man unter Berufung auf Foucaults wichtigen Aufsatz „Was ist ein Autor?“ sogar sagen: der Text IST nichts anderes als seine Lesarten - und wir haben hier halt einen komplexen und bei weitem nicht widerspruchsfreien Text bzw. eine komplexe und nicht widerspruchsfreie Welt.

_ ℂ Λ ℕ Ð I Ð € _

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Gräme dich nicht
Hallo ℂ Λ ℕ Ð I Ð €

Auch wenn sich nicht mal die Fragestellerin für unsere
Diskussion interessiert…

Gräme dich nicht.
Sie bat: „bitte so einfach wie möglich den Begriff versuchen zu erklären“,
für eine Prüfung, die sie am 23. hat (inzwischen: hatte).
Sie wird also allenfalls noch Horsts Beitrag vom 22. gelesen haben.
Andere haben jedoch, dem Vernehmen nach, eure Ausführungen mit Spannung verfolgt.

Cheerio!
Nescio

Danke, Nescio, für den netten Zuspruch!

Auch wenn sich nicht mal die Fragestellerin für unsere
Diskussion interessiert…

Gräme dich nicht.

So direkt grämen tu ich mich darob auch nicht. Mir kam allerdings angesichts des scheinbaren Desinteresses der Fragestellerin und von Klickzahlen im einstelligen Bereich in den Sinn, Horst vielleicht nicht einfach besser gleich per Mail zu antworten :wink:

Dir einen schönen Sonntag!

_ ℂ Λ ℕ Ð I Ð € _

Foucault über Freiheit und Selbsttechniken
Hi Candide.

Auch wenn sich nicht mal die Fragestellerin für unsere Diskussion interessiert …

Macht doch nichts (im Zusammenhang mit ihrer Prüfung hat sie vermutlich andere Sorgen, will das Thema vielleicht auch hinter sich lassen). Wichtig ist, dass sie die Anregung dazu gab, was mich jedenfalls endlich dazu brachte, mich näher mit Foucault zu befassen, den ich jetzt sogar wirklich interessant finde. Während du zu diesem Thema schon universitär vorbelastet bist :smile:

Ich bitte daher um Gnade, wenn ich hier lediglich den e i n e n Punkt herauskristallisieren möchte, auf den es mir in diesem Thread ankommt: dass Foucault sehr wohl ein Denker der Freiheit ist. Denn gerade das jahrzehntelang aus seinen publizierten Reflexionen Ausgeschlossene (der Freiheitsbegriff) motiviert – aus dem Hintergrund - sein ganzes Denken, das an der Oberfläche nur um den Machtbegriff kreist.

Als Homosexueller hatte er am eigenen Leibe erfahren, was es heißt, von der Gesellschaft „überwacht“ und reglementiert zu werden (wobei die Homosexualität in Frankreich allerdings seit 1791 legalisiert ist, im Unterschied zu Deutschland, wo sie erst in den 70ern legalisiert wurde). In den 50ern ging er – um der psychologischen Diskriminierung zu entkommen – für ein paar Jahre nach Schweden, wo er auch sein erstes Buch konzipierte (Wahnsinn und Gesellschaft, 1961).

Was dir ja alles bekannt ist. Ich will damit nur auf den offensichtlichen Sachverhalt hinweisen, dass Foucaults Philosophie a u c h seiner persönlichen Lebenssituation entsprang. Daraus – meine ich – resultiert die jahrzehntelange Einseitigkeit seiner Perspektive (das Machtparadigma). Die er aber in den späten 70ern zu relativieren begann, als eben doch das Freiheitsmotiv Einzug in sein Denken hielt. Natürlich hatte sich der Zeitgeist seit den 50ern gewandelt, die Welt war toleranter und liberaler geworden, und Foucault kam nicht umhin, das auch denkerisch zu assimilieren.

Ein paar Zitate dazu:

Aus „Das Subjekt und die Macht“, 256:

„Macht und Freiheit stehen sich also nicht in einem Ausschließungsverhältnis gegenüber (wo immer Macht ausgeübt wird, verschwindet die Freiheit), sondern innerhalb eines sehr viel komplexeren Spiels: in diesem Spiel erscheint die Freiheit sehr wohl als die Existenzbedingung von Macht (sowohl als ihre Voraussetzung, da es der Freiheit bedarf, damit Macht ausgeübt werden kann, wie auch als ihr ständiger Träger, …)“

Im folgenden Zitat wird gezeigt, wie gouvernementales Regieren Freiheit „vollzieht“, wobei die Freiheitstypen im einzelnen genannt werden:

(Aus „Die Geburt der Biopolitik“, Die Geschichte der G., Bd. 2, 97)

„In einem tieferen Sinne vollzieht sie (die Regierungspraxis, H.Tr.) die Freiheit. Sie vollzieht die Freiheit insofern, als sie nur in dem Maße möglich ist, in dem es tatsächlich eine bestimmte Anzahl von Freiheiten gibt: Freiheit des Marktes, (…), freie Ausübung des Eigentumsrechts, Diskussionsfreiheit, eventuell Ausdrucksfreiheit usw. Die neue gouvernementale Vernunft braucht also die Freiheit, die neue Regierungskunst vollzieht Freiheit. Sie vollzieht Freiheit, d.h. sie ist verpflichtet, Freiheit zu schaffen.“

Ich meine, das ist schon gravierend: der Freiheitsbegriff taucht in 4 Sätzen 10 mal auf. Ein paar Sätze später wird sinngemäß gesagt, dass es nicht um einen Imperativ „Sei frei“ an die Bevölkerung geht, sondern um das Angebot „Wir geben euch die Möglichkeit, frei zu sein“.

Ein Foucault-Zitat aus:

Thomas Lemke, „Freiheit ist die Garantie der Freiheit“, Michel Foucault und die Menschenrechte:

„Die Freiheit der Menschen wird niemals durch die Institutionen und Gesetze sichergestellt, die sie garantieren sollen. […] Ich denke nicht, dass es jemals in der Struktur der Dinge etwas geben könnte, das die Ausübung der Freiheit garantiert. Die Garantie der Freiheit ist die Freiheit.“

Hier hat Freiheit sogar, wie mir scheint, den Status des politisch Konstruierten abgelegt und ist ein existentielles Faktum vor aller Politik.

Foucault hat auch das Thema der – sagen wir mal – Selbstverwirklichung des Subjekts im Fokus.

In „Technologien des Selbst“ (46 f.) heißt es:

„In der von der Stoa bestimmten philosophischen Tradition bedeutet Askese nicht Verzicht, sondern zunehmende Beachtung des Selbst und eine Selbstbeherrschung, die nicht durch Verzicht auf die Realität erlangt wird, sondern durch Erwerb und Aufnahme von Wahrheit.“

In einem wichtigen Text („Freiheit und Selbstsorge“, Interview und Vorlesung), der mir nicht vorliegt, hat Foucault wichtige Aussagen über die sog. Selbsttechniken bzw. Freiheitstechniken gemacht, zu denen er auch die Meditation zählt. Bekanntlich hatte er ein starkes Interesse am Buddhismus und besonders am Zen.

Der „schwarze“ Foucault – wenn du damit den düsteren meinst – hatte sich also gegen Ende seines tragisch abgekürzten Daseins erheblich aufgehellt.

Ich lese Foucault sicher nicht aus marxistischer Sicht, eher noch Marx aus Foucaultianischer Sicht, aber sagen wir mal ganz allgemein, ich lese ihn wohl eher aus einer ideologie- und gesellschaftskritischen Perspektive als du.

Ich selbst „lese“ gerne marxistisch, aber immer auch mit dem Gedanken an Evolution und Fortschritt (entsprechend Wilbers und Habermas´ Konzepten einer progressiven Geschichte des Bewusstseins bzw. der Vernunft). Jeglicher Relativismus und Fatalismus ist mir fremd. Deswegen versuche ich, in Foucaults Konzept den einen Punkt herauszuschälen, der mit meiner Fortschrittsgläubigkeit konform geht – d.h. den Freiheitsgedanken.

Das wäre eine Sonderdiskussion, da ich die (genuin strukturalistische) Trennung Symbolisches/Imaginäres ums Verrecken nicht voraussetzen mag - wie übrigens Foucault, über den wir hier reden, auch nicht.

Na gut, dann visieren wir eine Sonderdiskussion dazu an (Thema Lacan natürlich).

„Statt als Ausdruck der Macht des Souveräns tritt die Bevölkerung vielmehr als Zweck und Instrument der Regierung hervor“ (Schriften 3, 817).
Es heißt „Bevölkerung = Zweck“ , was bedeutet, dass es keine Zwecke gibt, die jenseits der Interessen der Bevölkerung liegen …

Was ich jetzt NICHT mitgehe ist, dass du daraus, dass die Bevölkerung Instrument und Zweck des Regierens wird, folgerst, dass es um die Interessen der Bevölkerung ginge … Dieser Twist setzt ein Verständnis von Bevölkerung als eine Art Subjekt voraus (nur Subjekte können Interessen haben), was Foucault wiederum sehr fremd ist.

Schade, dass ich nicht die unmittelbar folgenden Sätze ebenfalls zitierte:

„Die Bevölkerung tritt als Subjekt von Bedürfnissen und Bestrebungen, aber ebenso auch als Objekt in den Händen der Regierung hervor … Das Interesse als Bewusstsein jedes einzelnen der Individuen … und das Interesse als Interesse der Bevölkerung … werden die Zielscheibe und das fundamentale Instrument der Regierung der Bevölkerungen sein“ (817).

Es geht also definitiv um die Interessen der Bevölkerung, die u.a. als Subjekt(gruppe) verstanden wird. Bezieht man die weiter oben angeführten Zitate zur Freiheit ein, dann erscheint es keineswegs abwegig, die Begriffe „Zweck“ und „Instrument“ affirmativ zu interpretieren. Es geht der Regierung (im Sinne des gouvernementalen Konzepts) nicht darum, die Bevölkerung für Zwecke zu manipulieren, die den Interessen der Bevölkerung zuwiderlaufen. Eine solche Interpretation findet im Text keine Grundlage.

Der Zweck der Ausübung souveräner Macht liegt jenseits des Objekts, an dem Macht ausgeübt wird, nämlich an der Bevölkerung.

Der Zweck der souveränen Macht liegt, wie gesagt, bei der Selbsterhaltung, dem Eigenwohl der Souveränität. Hier ist die Bevölkerung nicht Zweck, sondern Mittel zum Zweck (der Selbsterhaltung).

Foucault schreibt: „Der Zweck der Souveränität ist somit zirkulär… das Wohl ist der Gehorsam vor dem Gesetz, demnach ist das Wohl, das die Souveränität sich vornimmt, dass die Leute ihr gehorchen“ (809)

In der Gouvernementalität liegt der Zweck der Machtausübung im Objekt selbst: Macht wird an der Bevölkerung ausgeübt um damit Bevölkerung zu gestalten/hervorzubringen/kontrollieren/etc. … Mehr heißt das aber erstmal nicht.

Doch, das heißt mit Foucault (hier zum dritten Mal zitiert):

„Denn was kann, im Grunde genommen, das Ziel der Regierung sein? Gewiss nicht zu regieren, sondern DAS LOS DER BEVÖLKERUNGEN ZU VERBESSERN, ihre Reichtümer, ihre Lebensdauer und ihre
Gesundheit zu MEHREN …“

Der Philosoph aus dem Lande meiner Vorfahren zum Thema Macht:

(Dispositive der Macht, 35)

„Wenn sie nur repressiv wäre, wenn sie niemals anderes tun würde als nein sagen, ja glauben Sie dann wirklich, dass man ihr gehorchen würde? Der Grund dafür, dass die Macht herrscht, dass man sie akzeptiert, liegt ganz einfach darin, dass sie nicht nur als neinsagende Gewalt auf uns lastet, sondern in Wirklichkeit die Körper durchdringt, Dinge produziert, Lust verursacht, Wissen hervorbringt, Diskurse produziert; man muss sie als ein produktives Netz auffassen, das den ganzen sozialen Körper durchzieht.“

Foucaults Machtparadigma erinnert mich sehr an eine Vermischung der Lacan´schen Sphären des Symbolischen und Imaginären. Mit diesem Begriffspaar ließe sich die Foucault´sche Macht sauber in zwei sehr unterschiedliche Typen zwischenmenschlicher Strukturen trennen. Denn Macht ist sowohl ein Motiv des Imaginären wie des Symbolischen.

Können wir aber gerne in einem Lacan-Thread bequatschen, bis dahin vertiefe ich Foucault noch etwas.

Rousseau wird von Foucault auf S. 808-809 im G-Vortrag thematisiert, wo auch auf seine Vertragstheorie Bezug genommen wird in einer Weise, die für mich keineswegs ausschließt, dass diese Theorie im Konzept der Gouvernementalität einen Platz hat. Allerdings ist die Stelle nicht eindeutig interpretierbar, finde ich (wenn man Foucaults Position zur Rousseau´schen Vertragstheorie nicht schon aus einer anderen Quelle kennt).

Gruß

Horst

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Lieber Horst!

Ich bitte daher um Gnade, wenn ich hier lediglich den e i n e
n Punkt herauskristallisieren möchte, auf den es mir in diesem
Thread ankommt: dass Foucault sehr wohl ein Denker der
Freiheit ist.

Gut!
Lass mich schnell zwei Punkte vorab anbringen:

  1. Ich halte Foucault durchaus auch selbst unbedingt für einen „Denker der Freiheit“. Ich hoffe, du hattest mich hierin nicht missverstanden. Meine Punkt dabei ist, um welche(n) Freiheitsbegriff(e) es hierbei geht.
  2. Langsam wird das Thema so spezifisch, dass mir meine „Vorbelastung“ absolut nicht mehr weiterhilft. Ich müsste zu lesen beginnen. Insofern muss ich einige Dinge einfach offen lassen - auch von meiner Seite also die Bitte um Gnade :wink:

Im Grunde findet daher in meinem Post wohl nur noch Zustimmung oder Feinabstimmung statt.

Was dir ja alles bekannt ist. Ich will damit nur auf den
offensichtlichen Sachverhalt hinweisen, dass Foucaults
Philosophie a u c h seiner persönlichen Lebenssituation
entsprang.

Natürlich! Hochgradig.

Aus „Das Subjekt und die Macht“, 256:

„Macht und Freiheit stehen sich also nicht in einem
Ausschließungsverhältnis gegenüber (wo immer Macht ausgeübt
wird, verschwindet die Freiheit), sondern innerhalb eines sehr
viel komplexeren Spiels: in diesem Spiel erscheint die
Freiheit sehr wohl als die Existenzbedingung von Macht (sowohl
als ihre Voraussetzung, da es der Freiheit bedarf, damit Macht
ausgeübt werden kann, wie auch als ihr ständiger Träger, …)“

Richtig;
genau dieses Zitat spricht aber eigentlich doch GEGEN deine These vom „einseitigen“ Foucault, der bis zu seiner „ethischen Wende“ Ende der 70er angeblich alles in Machttheorie aufgehen ließ.
Freiheit ist ein unverzichtbarer Bestandteil im Herzen der Macht.
Aber es handelt sich dabei NICHT um die Vorstellung einer Freiheit, wie der Liberalismus sie artikuliert: die Freiheit, seine eigene Meinung zu artikulieren, die Freiheit des Staatsbürgers usw.

Darum, wie man diese Freiheits-Konzeptionen Foucaults (die ganz fraglos bei ihm vorhanden sind) positiv qualifizieren kann, darum ging es mir von Anfang an.
Und dabei bringt mich ein Zitat wie das obige nicht weiter, denn DASS es bei der Macht ganz zentral auch um Freiheit geht, das weiß ich ja auch.

BTW:
Lies dir zu dieser Frage mal Foucaults einleitende Worte zum Tagebuch der/des Herculine Barbin („Über Hermaphrodismus“, stw 1733; ebenfalls von Ende der 70er) durch, und du wirst dort bei genauem Hinschauen ein äußerst seltsames Verständnis einer Freiheit finden, die gerade dort blüht, wo scheinbar die Macht rast, innerhalb der Klostermauern, und die dort zerstört wird, wo die Ersetzung der Macht durch die aufgeklärte Suche nach der Wahrheit ins Spiel tritt. Du wirst eine Freiheit der Nicht-Identität finden, eine Freiheit der Unsichtbarkeit und Identitätslosigkeit.
Das sind erstens alles keine „politischen Freiheiten“, keine Freiheit, die der heutige Pan-Liberalismus überhaupt in den Mund nehmen würde.
Und zweitens stehen sie erstmal nicht allzusehr in Einklang mit einem Projekt der „progressiven Geschichte der Vernunft“.
(auf diesen Aspekt gehe ich unten nicht mehr ein)

(Aus „Die Geburt der Biopolitik“, Die Geschichte der G., Bd.
2, 97)

„In einem tieferen Sinne vollzieht sie (die Regierungspraxis,
H.Tr.) die Freiheit. Sie vollzieht die Freiheit insofern, als
sie nur in dem Maße möglich ist, in dem es tatsächlich eine
bestimmte Anzahl von Freiheiten gibt: Freiheit des Marktes,
(…), freie Ausübung des Eigentumsrechts, Diskussionsfreiheit,
eventuell Ausdrucksfreiheit usw. Die neue gouvernementale
Vernunft braucht also die Freiheit, die neue Regierungskunst
vollzieht Freiheit. Sie vollzieht Freiheit, d.h. sie ist
verpflichtet, Freiheit zu schaffen.“

Ok, dieser Aspekt ist doch zwischen uns völlig unbestritten.
Ich sprach von vorne herein davon, dass die Gouvernementalität wesentlich darauf beruht, „Rechte“ (oder „Freiheiten“; in unserem Zusammenhang sehe ich keinen großen Unterschied zwischen diesen beiden Begriffe) zu respektieren, sie zu befördern, mit ihnen zu taktieren.

Ich meine, das ist schon gravierend: der Freiheitsbegriff
taucht in 4 Sätzen 10 mal auf.

Ja, unbestritten, aber der Begriff taucht hier doch als reine Deskription des Wirkens der Gouvernementalität auf.
Die spezifische Qualität dieser hier angeführten „Freiheiten“ wird durch nichts näher bestimmt als durch den Hinweis, dass sie notwendig sind für die „gouvernementale Vernunft“.

Der „schwarze“ Foucault – wenn du damit den düsteren meinst –
hatte sich also gegen Ende seines tragisch abgekürzten Daseins
erheblich aufgehellt.

Mit dem „schwarzen“ Foucault meinte ich den Foucault, wie er in der Soziologie rezipiert wird, und in der Tat findet in dieser Disziplin sein Wirken nach etwa 1976, also nach „Überwachen und Strafen“ und „Sexualität und Wahrheit I“ praktisch nicht statt, weil es im Gegensatz zu den beiden angeführten „düsteren“ Werken thematisch für die Soziologie wenig Anschluss bietet.

Dieser Perspektivenwechsel Foucaults ab Ende der 70er ist auch völlig unbestritten, mir ging es von vorne herein nur darum, dass auch der späte Foucault kein (ich zitiere mich selbst) „spezieller Denker der politischen Freiheit“ ist -mit Betonung auf politischer Freiheit, also auf derjenigen Dimension von Freiheit, der Foucault in deinem obigen Zitat:
Die Freiheit der Menschen wird niemals durch die Institutionen und Gesetze sichergestellt, die sie garantieren sollen. […] Ich denke nicht, dass es jemals in der Struktur der Dinge etwas geben könnte, das die Ausübung der Freiheit garantiert. Die Garantie der Freiheit ist die Freiheit.“
ja geradezu in radikalster Form eine Absage erteilt.

Wie gesagt, dass Foucault ein „Denker der Freiheit“ ist, ist von mir genauso unbestritten, wie dass er ein Denker ist, dem es um eine Art „Emanzipation“ geht, auch wenn er dem Begriff der Emanzipation und dessen tradierten philosophischen und ideologischen Gehalten stets eine entschiedene Absage erteilte.

„Statt als Ausdruck der Macht des Souveräns tritt die Bevölkerung vielmehr als Zweck und Instrument der Regierung hervor“ (Schriften 3, 817).
Es heißt „Bevölkerung = Zweck“ , was bedeutet, dass es keine Zwecke gibt, die jenseits der Interessen der Bevölkerung liegen …

Was ich jetzt NICHT mitgehe ist, dass du daraus, dass die Bevölkerung Instrument und Zweck des Regierens wird, folgerst, dass es um die Interessen der Bevölkerung ginge … Dieser Twist setzt ein Verständnis von Bevölkerung als eine Art Subjekt voraus (nur Subjekte können Interessen haben), was Foucault wiederum sehr fremd ist.

Schade, dass ich nicht die unmittelbar folgenden Sätze
ebenfalls zitierte:

„Die Bevölkerung tritt als Subjekt von Bedürfnissen und
Bestrebungen, aber ebenso auch als Objekt in den Händen der
Regierung hervor … Das Interesse als Bewusstsein jedes
einzelnen der Individuen … und das Interesse als Interesse der
Bevölkerung … werden die Zielscheibe und das fundamentale
Instrument der Regierung der Bevölkerungen sein“ (817).

Es geht also definitiv um die Interessen der Bevölkerung, die
u.a. als Subjekt(gruppe) verstanden wird.

Das lässt mich jetzt in der Tat sprachlos zurück. Ich verweise hier auf Vorabbemerkung 2 :wink:

(Dispositive der Macht, 35)

„Wenn sie nur repressiv wäre, wenn sie niemals anderes tun
würde als nein sagen, ja glauben Sie dann wirklich, dass man
ihr gehorchen würde? Der Grund dafür, dass die Macht herrscht,
dass man sie akzeptiert, liegt ganz einfach darin, dass sie
nicht nur als neinsagende Gewalt auf uns lastet, sondern in
Wirklichkeit die Körper durchdringt, Dinge produziert, Lust
verursacht, Wissen hervorbringt, Diskurse produziert; man muss
sie als ein produktives Netz auffassen, das den ganzen
sozialen Körper durchzieht.“

Völlig klar, genau diesen Aspekt hatte ich ja hier bereits betont:
/t/was-ist-gouvernementalitaet-foucault/5320660/6

Rousseau wird von Foucault auf S. 808-809 im G-Vortrag
thematisiert, wo auch auf seine Vertragstheorie Bezug genommen
wird in einer Weise, die für mich keineswegs ausschließt, dass
diese Theorie im Konzept der Gouvernementalität einen Platz
hat. Allerdings ist die Stelle nicht eindeutig
interpretierbar, finde ich (wenn man Foucaults Position zur
Rousseau´schen Vertragstheorie nicht schon aus einer anderen
Quelle kennt).

Hier wie oben sind wir an dem Punkt angelangt, an dem wir ohne gemeinsame Lektürebasis einfach nicht mehr weiterreden können. Ich kann mir nicht vorstellen, wie man Foucault als Vertragstheoretiker lesen können sollte (auch nicht, wie man mit ihm Populationen als Subjekte verstehen können soll).

Ich nehme mir tatsächlich vor, mir diese Schriften und Vorlesungen über die Gouvernementalität einmal genauer vorzunehmen, werde das aber leider gewiss nicht mehr schaffen, solange dieser Thread noch aktuell ist.
Vielleicht will ja irgendwann mal wieder jemand in diesem Forum wissen, was Gouvernementalität ist :wink:

_ ℂ Λ ℕ Ð I Ð € _

Die zwei Freiheiten des Michel Foucault
Hi Candide.

Langsam wird das Thema so spezifisch, dass mir meine „Vorbelastung“ absolut nicht mehr weiterhilft. Ich müsste zu lesen beginnen. Insofern muss ich einige Dinge einfach offen lassen - auch von meiner Seite also die Bitte um Gnade :wink:

Ja, ich bin zufällig mit einschlägiger Primärliteratur gesegnet. Gestern traf hier auch Band 4 der Schriften ein. Das Zitat aus der „Geburt der Biopolitik“ hatte ich übrigens unten dem skeptischen Blick einer Verkäuferin in Münchens bester Philosophiebuchhandlung aus dem Taschenbuch herausnotiert. Sie brachte mir sogar eine andere Unterlage, damit sich der Stift nicht auf Gadamers „Wahrheit und Methode“ durchdrückt :smile:

„Macht und Freiheit stehen sich also nicht in einem Ausschließungsverhältnis gegenüber (wo immer Macht ausgeübt wird, verschwindet die Freiheit), sondern innerhalb eines sehr viel komplexeren Spiels… („Das Subjekt und die Macht“, 256)

genau dieses Zitat spricht aber eigentlich doch GEGEN deine These vom „einseitigen“ Foucault, der bis zu seiner „ethischen Wende“ Ende der 70er angeblich alles in Machttheorie aufgehen ließ.

Nach meiner Recherche kam der zitierte Text aber erst 1982 heraus. Also längst nach dem Eintritt der von mir provisorisch so benamsten „Wende“. Ich habe noch keinen Foucault-Text vor 1976 gesichtet, wo ausführlicher von Freiheit die Rede ist, lasse mich aber gerne korrigieren.

Aber es handelt sich dabei NICHT um die Vorstellung einer Freiheit, wie der Liberalismus sie artikuliert: die Freiheit, seine eigene Meinung zu artikulieren, die Freiheit des Staatsbürgers usw.

Hier verweise ich nochmal auf das Zitat aus der „Biopolitik“, wo Foucault Freiheit in ihre einzelnen Sparten splittet:

„… eine bestimmte Anzahl von Freiheiten gibt: Freiheit des Marktes, (…), freie Ausübung des Eigentumsrechts, Diskussionsfreiheit, eventuell Ausdrucksfreiheit usw.“

Darum, wie man diese Freiheits-Konzeptionen Foucaults (die ganz fraglos bei ihm vorhanden sind) positiv qualifizieren kann, darum ging es mir von Anfang an.

Das Problem scheint mir darin zu bestehen, dass Foucault zwei verschiedene Freiheitskonzeptionen verwendet, d.h. 1) eine politische konstruierte (im Sinne von Freiraum und Freiheitsrecht, was den Menschen „gegeben“ wird), 2) – wie ich an einer Stelle sagte - Freiheit als „existentielles Faktum vor aller Politik“.

Lies dir zu dieser Frage mal Foucaults einleitende Worte zum Tagebuch der/des Herculine Barbin … durch, … Du wirst eine Freiheit der Nicht-Identität finden, eine Freiheit der Unsichtbarkeit und Identitätslosigkeit. Das sind erstens alles keine „politischen Freiheiten“, keine Freiheit, die der heutige Pan Liberalismus überhaupt in den Mund nehmen würde.

Foucault thematisiert eindeutig auch die politischen Freiheiten und nennt sie das, was durch die Regierungspraxis „vollzogen“ wird. Er schreibt nach ihrer Auflistung (nochmals zitiert):

„ Die neue gouvernementale Vernunft (sic!) braucht also die Freiheit, die neue Regierungskunst vollzieht Freiheit. Sie vollzieht Freiheit, d.h. sie ist verpflichtet, Freiheit zu schaffen.“

Bitte beachten: Foucault spricht von der „Vernunft“.

Und zweitens stehen sie erstmal nicht allzusehr in Einklang mit einem Projekt der „progressiven Geschichte der Vernunft“.

Zumindest die von Foucault ausdrücklich genannten politischen Freiheiten k a n n man in dieses Projekt einordnen. Zumal er sie im Kontext einer „neuen“ Vernunft sieht – was auf „progressive Geschichte“ hindeutet.

Der von dir genannte Text (mir jetzt nicht verfügbar) scheint auf einen „spirituellen“ Freiheitstyp anzuspielen, den ich wiederum zu dem anderen von mir genannten „Projekt“ (Candide) zählen würde, nämlich dem der progressiven Geschichte des Bewusstseins (Wilber).

Ich würde also bei Foucault zwei Typen der Freiheit unterscheiden: die politische und die spirituelle. Letztere Bezeichnung würde Foucault vermutlich nicht ablehnen. Vielmehr hat er ausreichend Material geliefert, welches das rechtfertigt (siehe auch „Michel Foucault und das Zen“, Schriften 3, 776).

(Foucault:smile: „Die neue gouvernementale Vernunft braucht also die Freiheit, die neue Regierungskunst vollzieht Freiheit. Sie vollzieht Freiheit, d.h. sie ist verpflichtet, Freiheit zu schaffen.“
(H.Tr.) … das ist schon gravierend: der Freiheitsbegriff taucht in 4 Sätzen 10 mal auf.

Ja, unbestritten, aber der Begriff taucht hier doch als reine Deskription des Wirkens der Gouvernementalität auf. Die spezifische Qualität dieser hier angeführten „Freiheiten“ wird durch nichts näher bestimmt als durch den Hinweis, dass sie notwendig sind für die „gouvernementale Vernunft“.

Welche (und jetzt dreht sich unsere Debatte im Kreis) aber nichts anderes zum Zweck hat als die Interessen der Bevölkerung (Steigerung der Lebensqualität) – wie aus einer anderen Foucault-Stelle eindeutig hervorgeht. Ich sehe darin ganz klar eine qualitative Bestimmung des Freiheitsbegriffs, die das O b j e k t (Bevölkerung) der Vernunft im Auge hat – und nicht das S u b j e k t (die Regierung), wie deine Formulierung nahelegt. Die Freiheiten sind nicht notwendig für die Vernunft an sich, sondern für deren Zweck.

Wenn Foucault sagt: „Die neue gouvernementale Vernunft braucht also die Freiheit…“, dann meint er doch, dass sie die Freiheit braucht, um ihren Zweck zu erfüllen, d.h. sie braucht freie Bürger, die für eine bessere Gesellschaft, für ein besseres Leben, für mehr Wohlstand usw. arbeiten.

  1. Zweck = „ DAS LOS DER BEVÖLKERUNGEN ZU VERBESSERN, ihre Reichtümer, ihre Lebensdauer und ihre Gesundheit zu MEHREN …“

  2. Instrument = der freie Bürger

Also braucht die „gouvernementale Vernunft“ die Freiheit (den freien Bürger). Sie ist „verpflichtet, Freiheit zu schaffen“ (Foucault), um den angestrebten Zweck zu realisieren.

mir ging es von vorne herein nur darum, dass auch der späte Foucault kein (ich zitiere mich selbst) „spezieller Denker der politischen Freiheit“ ist - mit Betonung auf politischer Freiheit, also auf derjenigen Dimension von Freiheit, der Foucault in deinem obigen Zitat:

„Die Freiheit der Menschen wird niemals durch die Institutionen und Gesetze sichergestellt, die sie garantieren sollen. […] Ich denke nicht, dass es jemals in der Struktur der Dinge etwas geben könnte, das die Ausübung der Freiheit garantiert. Die Garantie der Freiheit ist die Freiheit.“

… ja geradezu in radikalster Form eine Absage erteilt.

Ich deute das überhaupt nicht als Absage, sondern als Relativierung. Die Gesetze können Freiheit nicht sicherstellen, wenn es keine Subjekte gibt, die aus einer Eigeninitiative heraus fähig sein, frei zu handeln. D a s scheint mir der Punkt zu sein. Dadurch werden die politischen Freiheiten in keinster Weise abgewertet. Denn was nützte eine Freiheit der Praxis (von der Foucault oben spricht im Unterschied zur politischen Freiheit), wenn es keine politischen Freiheiten gäbe?

Beachte bitte den K o n t e x t des obigen Zitats (siehe im Net die pdf von Lemke unter dem Titel „Die Freiheit ist die Garantie der Freiheit“). Foucault geht es darum, dass Menschen Eigenintiative entwickeln müssen, wenn der rechtliche Rahmen unzureichend ist, um menschliches Leid zu verhindern.

Das heißt keinesfalls, dass er den festgeschriebenen Freiheiten eine Absage erteilt. Ohne diese (Meinungsfreiheit, legale Homosexualität usw.) gäbe es doch gar keinen Foucault, der über Macht und Freiheit schreiben könnte …

Rousseau wird von Foucault auf S. 808-809 im G-Vortrag thematisiert, wo auch auf seine Vertragstheorie Bezug genommen wird in einer Weise, die für mich keineswegs ausschließt, dass diese Theorie im Konzept der Gouvernementalität einen Platz hat.

Hier wie oben sind wir an dem Punkt angelangt, an dem wir ohne gemeinsame Lektürebasis einfach nicht mehr weiterreden können …

Ist mir schon klar. Ich liefere aber hier noch diese Stelle:

„Lesen Sie die beiden Texte von Rousseau. In dem … Artikel `Politische Ökonomie´ aus der Enzyklopädie sehen Sie, wie Rousseau das Problem der Regierung und der Regierungskunst aufwirft … Rousseau macht es sich … in diesem Artikel zur Aufgabe, eine Regierungskunst zu definieren. Danach (nach dem Artikel, H.Tr.) wird er den Contrat Sociale schreiben, bei dem das Problem darin bestehen wird, wie man mit Begriffen wie Natur, Vertrag und Allgemeiner Wille ein allgemeines Prinzip des Regierens aufstellen kann, das sowohl dem juridischen Prinzip der Souveränität als auch den Elementen, durch die man eine Regierungskunst definieren und charakterisieren kann, einen Platz lässt.“

Da kann man natürlich nur mit der Wünschelrute ausmachen, ob Foucault Rousseaus Überlegungen zur Regierungskunst als kompatibel zum Gouvernementalitätskonzept erachtet. Meine Wünschelrute schlägt hier deutlich aus, was aber nicht heißt, dass Foucault die Vertragstheorie im ganzen affirmiert (diese Aussage nehme ich bis auf weiteres zurück).

Wir können gerne eine Denk- und Recherchepause zu diesem Thema einlegen. Es gibt ja auch andere Themen, die nach Diskussion schreien, wie z.B. dein Freund Agamben, die gute Butler (sexuelle Identitätsfrage) oder Ernesto Laclau, den ich neuerdings näher im Blick habe.

Gruß

Horst

PS. Hast du übrigens gewusst, dass sich Foucault in den frühen 70ern von einem holländischen Fernsehsender das Honorar für ein Interview in Form von 200 g Cannabis auszahlen ließ?

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Die eins oder drei Freiheiten des Michel Foucault
Lieber Horst!

Das
Zitat aus der „Geburt der Biopolitik“ hatte ich übrigens unten
dem skeptischen Blick einer Verkäuferin in Münchens bester
Philosophiebuchhandlung aus dem Taschenbuch herausnotiert. Sie
brachte mir sogar eine andere Unterlage, damit sich der Stift
nicht auf Gadamers „Wahrheit und Methode“ durchdrückt :smile:

Sehr schön :wink:

Die Seminararbeit eines Freundes, die einen Vergleich von Gadamers Hermeneutik und Foucaults Diskurstheorie zum Gegenstand hatte, war damals mein überhaupt erster Kontakt mit Foucault.

genau dieses Zitat spricht aber eigentlich doch GEGEN deine These vom „einseitigen“ Foucault, der bis zu seiner „ethischen Wende“ Ende der 70er angeblich alles in Machttheorie aufgehen ließ.

Nach meiner Recherche kam der zitierte Text aber erst 1982
heraus. Also längst nach dem Eintritt der von mir provisorisch
so benamsten „Wende“.

Mir gings hier nicht um die Jahreszahl; diese Charakterisierung der Macht gilt dem Grunde nach auch für Foucaults frühere Schriften, also auch für den Foucault vor seiner „ethischen Wende“.
So provisorisch ist diese Benennung und Datierung übrigens nicht; sie geht vollkommen konform mit der gängigen Sekundärliteratur.
http://books.google.de/books?id=sN1Oc0poFegC&pg=PA20…

Ich habe noch keinen Foucault-Text vor
1976 gesichtet, wo ausführlicher von Freiheit die Rede ist,
lasse mich aber gerne korrigieren.

Das scheint mir auch so der Fall zu sein, allerdings bin ich mir nicht sicher, ob das mehr bedeuten soll als nur diese angesprochene „Wende“ weg von der Machttheorie hin zur Handlungstheorie und zur Ethik - mit der zusammen der Freiheitsbegriff auftaucht, vielleicht auftauchen muss.

Wie könnte man auch ohne jeden Begriff der Freiheit Ethik betreiben, es sei denn, sie wäre Spinozistisch und more geometrico?

Z.B. in der „Ordnung des Diskurses“ (1970) erteilt er recht knapp -aber höchst programmatisch- dem philosophischen Freiheitsbegriff, der viel mit dem Subjekt und dem „Menschen“ zu tun hat, eine Absage.
An seine Stelle treten Begriffe wie Diskontinuierlichkeit, Zufall usw.

Wenn in den späten Schriften dann der Freiheitsbegriff auftaucht, dann ist dies sicher nicht jener Freiheitsbegriff, gegen den er sich hier wendete.

Das Problem scheint mir darin zu bestehen, dass Foucault zwei
verschiedene Freiheitskonzeptionen verwendet, d.h. 1) eine
politische konstruierte (im Sinne von Freiraum und
Freiheitsrecht, was den Menschen „gegeben“ wird), 2) – wie ich
an einer Stelle sagte - Freiheit als „existentielles Faktum
vor aller Politik“.

Punkt 1) ja

Punkt 2) erscheint mir schwierig. Wenn ich „Politik“ hier mal ganz weit fassen darf und sie mit „Diskursivität“ gleichsetzen darf (ich verstehe den Begriff der Politik hier sonst nicht wirklich), dann hieße das, dass er eine Art existentieller Freiheit vor aller Diskursivität denken würde.
Das scheint er tatsächlich bisweilen zu tun, z.B. eben in diesem angeführten Aufsatz zu „Herculine Barbin“, wo er eben Dinge wie das Nicht-Identische, oder auch den Körper an sich als Quell von Freiheit zu konzipieren scheint (Autorinnen wie eben Butler oder auch Nancy Fraser kritisieren ihn jedenfalls genau deshalb).

Punkt 3) wäre eine Art „epistemologischer Freiheit“ des Diskurses gegenüber den Dingen und den Subjekten, welche in der bisherigen Philosophiegeschichte ausgeblendet geblieben sei.

Wenn man diesen Punkt 3) als einen Aspekt der Freiheit anerkannt, und das Konzept der Freiheit auch dort sucht, wo der Begriff der Freiheit nicht selbst auftaucht, dann muss man etwa die benannte „Ordnung des Diskurses“ (1970) als Manifest der Freiheit anerkennen, weil diese ganze Schrift (seine Inauguralvorlesung am College de France, damit also sein Forschungsprogramm) sich voll und ganz um diesen Punkt 3) dreht.

Foucault thematisiert eindeutig auch die politischen
Freiheiten und nennt sie das, was durch die Regierungspraxis
„vollzogen“ wird. Er schreibt nach ihrer Auflistung (nochmals
zitiert):

„ Die neue gouvernementale Vernunft (sic!) braucht also die
Freiheit, die neue Regierungskunst vollzieht Freiheit. Sie
vollzieht Freiheit, d.h. sie ist verpflichtet, Freiheit zu
schaffen.“

Dass er sie thematisiert, das stand doch niemals in Frage.
Es geht mir darum, wie er sie konzeptuell gebraucht.
Und hier würde ich sagen, dass er sehr wohl etwa die Freiheit der Marktteilnehmer oder die Diskussionsfreiheit als wichtigen Faktor der Gouvernementalität sieht; ich kenne aber keine Stelle bei ihm, wo er sie quasi als letzte Zielgrößen seiner politischen Philosophie konzeptualisieren würde - wie dies eben der Liberalismus tut (ich nenne der Einfachheit halber den Liberalismus hier immer wieder um einfach eine Differenz zu setzen).

Das heißt freilich auch nicht, dass er solche Freiheiten ablehnen würde.

Bitte beachten: Foucault spricht von der „Vernunft“.

Und zweitens stehen sie erstmal nicht allzusehr in Einklang mit einem Projekt der „progressiven Geschichte der Vernunft“.

Zumindest die von Foucault ausdrücklich genannten politischen
Freiheiten k a n n man in dieses Projekt einordnen. Zumal er
sie im Kontext einer „neuen“ Vernunft sieht – was auf
„progressive Geschichte“ hindeutet.

Klar, man kann das jetzt natürlich alles so sehen, indem man den Begriffen „Vernunft“, „Geschichte“, „Fortschritt“ (Progression) eine neue Bedeutung verleiht, jedenfalls eine andere Bedeutung, als sie in der Philosophiegeschichte haben.
Vielleicht sollte man das auch tun, vielleicht hat Foucault damit auch selbst schon begonnen.

Auf der anderen Seite ist Foucaults Kritik an diesen Begriffen so dermaßen erdrückend (z.B. in Gestalt seines dezidierten Anti-Hegelianismus), dass man das dabei nicht unterschlagen darf.

Wenn Foucault sagt: „Die neue gouvernementale Vernunft braucht
also die Freiheit…“, dann meint er doch, dass sie die
Freiheit braucht, um ihren Zweck zu erfüllen, d.h. sie braucht
freie Bürger, die für eine bessere Gesellschaft, für ein
besseres Leben, für mehr Wohlstand usw. arbeiten.

Völlig richtig und völlig unbestritten;
die Gouvernementalität braucht für ihr Funktionieren keine Subjekte, die sich ihr blind unterwerfen (wie die Souveränität), sondern solche, die sich etwa einer Vernunftrichtlinie unterwerfen bzw. sich ihrer Regel gemäß modellieren (in einer Berufsausbildung etwa), weil sie dadurch einen besseren Job bekommen oder weil sie damit den Wohlstand der bundesdeutschen Volkswirtschaft erhöhen zu können hoffen, oder weil sie glauben, mehr Sex haben zu können, wenn sie drei mal die Woche ins Fitnessstudio gehen, oder die sich jahrelang in Camps hartem Drill unterwerfen, um so die gerechtere Gesellschaft herbeibomben zu können. Usw.

Hier geht es ganz klar um mehr Wohlstand, besseres Leben, gerechtere Gesellschaft usw., aber all das ist dennoch noch lange kein Vernunft- und Fortschrittsprojekt im Sinne eines Hegel, eines Habermas, oder eben des Liberalismus.

Das heißt keinesfalls, dass er den festgeschriebenen
Freiheiten eine Absage erteilt. Ohne diese (Meinungsfreiheit,
legale Homosexualität usw.) gäbe es doch gar keinen Foucault,
der über Macht und Freiheit schreiben könnte …

Es ging mir nicht darum, dass er der Festschreibung von Freiheitsrechten per se eine Absage erteilen würde (natürlich nicht!), sondern dass er das Festschreiben selbst nicht als den entscheidenden Fortschritts-Akt dabei sieht; im Gegenteil geht es ihm eher um eine stete Kritik an Festgeschriebenem bzw. um ein stetes und unaufhörliches Neu-Festschreiben.

Das ist dann aber kaum vereinbar mit denjenigen (ich nenne sie mal wieder liberalistischen) Positionen des Menschenrechtsdiskurs, die festlegen, welche Freiheiten und Rechte der Mensch braucht, die eine Allgemeine Erklärung daraus formulieren, und die dann versuchen, diese Grundsätze global durchzusetzen.

Wir können gerne eine Denk- und Recherchepause zu diesem Thema
einlegen. Es gibt ja auch andere Themen, die nach Diskussion
schreien, wie z.B. dein Freund Agamben, die gute Butler
(sexuelle Identitätsfrage) oder Ernesto Laclau, den ich
neuerdings näher im Blick habe.

Huch, mach mal langsam, Agamben kenne ich wenig, Laclau fast gar nicht, und Butler hat so viel Interessanteres zu bieten als die sexuelle Identitätsfrage :wink:

Ich würde bei Gelegenheit vielleicht gerne mal Symbolisches vs. Imaginäres mit dir diskutieren. Dabei würde ich mich dann tatsächlich auf Butler berufen.

PS. Hast du übrigens gewusst, dass sich Foucault in den frühen
70ern von einem holländischen Fernsehsender das Honorar für
ein Interview in Form von 200 g Cannabis auszahlen ließ?

Hast du schon gewusst, dass er in seinem Aufsatz „Theatrum philosophicum“ (1970) dem LSD ein kleines philosophisches Loblied singt? :wink:

_ ℂ Λ ℕ Ð I Ð € _

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Und ewig grüßt der Robespierre
Hi Candide.

Die Seminararbeit eines Freundes, die einen Vergleich von Gadamers Hermeneutik und Foucaults Diskurstheorie zum Gegenstand hatte, war damals mein überhaupt erster Kontakt mit Foucault.

Strange. Ich hatte nur zufällig nach dem Gadamer-Buch gegriffen, um eine Unterlage zu haben.

Also längst nach dem Eintritt der von mir provisorisch so benamsten „Wende“.

… also auch für den Foucault vor seiner „ethischen Wende“. So provisorisch ist diese Benennung und Datierung übrigens nicht; sie geht vollkommen konform mit der gängigen Sekundärliteratur.

Ich hatte mir den Begriff aus den eigenen Fingern gesaugt, natürlich im Zusammenhang mit seinem Gouvernementalitätskonzept.

Wie könnte man auch ohne jeden Begriff der Freiheit Ethik betreiben, es sei denn, sie wäre Spinozistisch und more geometrico?

In der Tat. Was Spinoza betrifft: erwärmen kann ich mich nicht für seine rigide Anschauung, dass es keinen freien Willen gibt.

Z.B. in der „Ordnung des Diskurses“ (1970) erteilt er … dem philosophischen Freiheitsbegriff, der viel mit dem Subjekt und dem „Menschen“ zu tun hat, eine Absage.

Der Text befindet sich vermutlich in Schriften 2, die mir nicht verfügbar sind. In Schriften 4, 287, findet sich in „Subjekt und Macht“ (definitiv 1982) folgende Stelle:

„Wenn man Machtausübung als ein auf Handeln gerichtetes Handeln definiert, wenn man sie als `Regierung´ von Menschen durch Menschen im weitesten Sinne des Wortes beschreibt, dann schließt man ein wichtiges Element ein, nämlich das der Freiheit. Macht kann nur über ´freie Subjekte´ ausgeübt werden, insofern sie ´frei´ sind – und damit seien hier individuelle oder kollektive Subjekte gemeint, die jeweils über mehrere Verhaltens-, Reaktions- oder Handlungsmöglichkeiten verfügen. Wo die Bedingungen des Handelns vollständig determiniert sind, kann es keine Machtbeziehung geben. Sklaverei ist keine Machtbeziehung, wenn der Mensch in Eisen geschlagen ist …“

Dann folgt der bereits zitierte Text aus „Subjekt und Macht“.

Foucault grenzt zuvor, auf Seite 286, die Macht von Gewalt und Konsens ab: „Sie bietet Anreize, verleitet, verführt, erleichtert oder erschwert, sie erweitert Handlungsmöglichkeiten oder schränkt sie ein, … , aber stets richtet sie sich auf handelnde Subjekte, insofern sie handeln oder handeln können.“

Was alles dem strategischen Handeln, also der zweckorientieren Steuerung fremden Verhaltens entspricht, welches Habermas vom kommunikativen Handeln unterscheidet, das auf Konsens zielt.

… dass Foucault zwei verschiedene Freiheitskonzeptionen verwendet, d.h. 1) eine politisch konstruierte …, 2) – wie ich an einer Stelle sagte - Freiheit als „existentielles Faktum vor aller Politik“.

Punkt 2) erscheint mir schwierig …dann hieße das, dass er eine Art existentieller Freiheit vor aller Diskursivität denken würde.

Ich meinte implizit die spirituelle Freiheit, gewiss der Typ von Freiheit „vor aller Diskursivität“, den du selbst andeutest:

Das scheint er tatsächlich bisweilen zu tun, z.B. eben in diesem angeführten Aufsatz zu „Herculine Barbin“, wo er eben Dinge wie das Nicht-Identische …

Ich denke, dass dieses Spirituelle eine Art transzendentale Freiheit ist, also die Grundbedingung für 1). Gäbe es keine innere „geistige“, d.h. spirituelle Freiheit (-sdimension), dann wären die anderen Typen sinnlos, denn dann wären Menschen von Tieren nicht zu unterscheiden. Das ist schon lange meine Auffassung. Allerdings kann man Foucault nicht als Spirituellen im Sinne des Zen betrachten – aus seinem Gespräch mit einem „Bonzen“ (Schriften 3, 776) geht hervor, dass er diesbezüglich sehr interessiert, aber noch ohne tiefere Erfahrung war. Sein Mystikverständnis orientiert sich eher an der mittelalterlichen (von der Kirche bekämpften) Mystik.

oder auch den Körper an sich als Quell von Freiheit zu konzipieren scheint…

Den Sex-Foucault muss ich mir noch anlesen. Echt sein Gebiet. Er selbst behauptete privat (gegenüber seinem Freund Paul Veyne, siehe „Der Philosoph als Samurai“), allein im ersten Jahr seiner „Entjungferung“ über 200 Typen gehabt zu haben. Veyne hält das für eine „geringe Übertreibung“.

(dein) Punkt 3) wäre eine Art „epistemologischer Freiheit“ des Diskurses gegenüber den Dingen und den Subjekten, welche in der bisherigen Philosophiegeschichte ausgeblendet geblieben sei. Wenn man diesen Punkt 3) als einen Aspekt der Freiheit anerkannt, und das Konzept der Freiheit auch dort sucht, wo der Begriff der Freiheit nicht selbst auftaucht …

Hier muss ich bekennen, nicht ganz zu verstehen, was du meinst, was aber an meiner mangelnden Erfahrung mit dem Epistemologie-Begriff liegt, den du durch soziologische Schulung mit links draufhast. Den Foucault der Diskursformationen usw. muss ich mir definitiv noch anlesen.

Meinst du mit „epistemologischer Freiheit“ die Unabhängigkeit von kulturell vorgegebenen Deutungsmustern bzw. Paradigmen?

Und hier würde ich sagen, dass er sehr wohl etwa die Freiheit der Marktteilnehmer oder die Diskussionsfreiheit als wichtigen Faktor der Gouvernementalität sieht; ich kenne aber keine Stelle bei ihm, wo er sie quasi als letzte Zielgrößen seiner politischen Philosophie konzeptualisieren würde - wie dies eben der Liberalismus tut …

In der Tat. Was ich aber auch nie behauptete. Ich bezog alles nur auf den Rahmen des Gouvernementalitäts-Konzepts.

Hier geht es ganz klar um mehr Wohlstand, besseres Leben, gerechtere Gesellschaft usw., aber all das ist dennoch noch lange kein Vernunft- und Fortschrittsprojekt im Sinne eines Hegel, eines Habermas, oder eben des Liberalismus.

Foucault hält sich mit Wertungen in einer bewundernswerten Weise zurück. Das meinte ich damit, als ich davon sprach, dass er „Röntgenaufnahmen“ liefert. Bei Veyne heißt es, dass Foucault die Dinge „vom Sirius aus“ betrachtete und analysierte. Exakt das, was ich zum Ausdruck bringen wollte.

Das heißt keinesfalls, dass er den festgeschriebenenFreiheiten eine Absage erteilt.

Es ging mir nicht darum, dass er der Festschreibung von Freiheitsrechten per se eine Absage erteilen würde (natürlich nicht!), sondern dass er das Festschreiben selbst nicht als den entscheidenden Fortschritts-Akt dabei sieht …

Ok, ich hatte das mit der radikalen Absage dann wohl überinterpretiert. Allerdings ist das „Festschreiben“ unbedingt als wichtiger, auch entscheidender Akt zu werten. Es schafft die Grundvoraussetzung für das praktische Handeln in Freiheit.

Denn man kann doch nicht jeden Tag aufs Neue eine Französische Revolution veranstalten, so in der Art von „Und ewig grüßt der Robespierre“ :smile:

Agamben kenne ich wenig, Laclau fast gar nicht, und Butler hat so viel Interessanteres zu bieten als die sexuelle Identitätsfrage :wink:

Agamben ist höchst umstritten in der deutschen Rezeption, er scheint die Differenz zwischen Demokratie und Diktatur theoretisch einzuebnen. Bei Laclau droht viel Strukturalistisches (Zizek brachte ihn bei einer Begegnung auf Lacan), und die Butler wollen wir natürlich nicht auf ihren biologischen Körper reduzieren (das ist jetzt eine Anspielung auf Lacans Sextheorie).

Hast du schon gewusst, dass er in seinem Aufsatz „Theatrum philosophicum“ (1970) dem LSD ein kleines philosophisches Loblied singt? :wink:

Das zwar nicht, aber dass er diesbezüglich gerne experimentierte (mehrmals im Jahr), das schon. In San Francisco nahm er übrigens LSD ein und ging in eine Schwulensauna, wo er sich das damals noch unbekannte AIDS einhandelte.

Gruß

Horst

Fukuyama
Hallo Horst,
ich will auch mal was sagen =:open_mouth:

Die Seminararbeit eines Freundes, die einen Vergleich von Gadamers Hermeneutik und Foucaults Diskurstheorie zum Gegenstand hatte, war damals mein überhaupt erster Kontakt mit Foucault.

Strange. Ich hatte nur zufällig nach dem Gadamer-Buch
gegriffen, um eine Unterlage zu haben.

Not so strange. Zwischen Foucault und Gadamer passte allenfalls Fukuyama, und der ist out.
Nescio

Die permanente Revolution aufm Sirius
Lieber Horst!

In Schriften 4, 287, findet sich in
„Subjekt und Macht“ (definitiv 1982) folgende Stelle:
"Wo die Bedingungen des
Handelns vollständig determiniert sind, kann es keine
Machtbeziehung geben. Sklaverei ist keine Machtbeziehung, wenn
der Mensch in Eisen geschlagen ist …“

Wie gesagt: dieses Verständnis von Macht (und damit implizit auch von Freiheit - in welchem der drei angeführten Sinndimensionen dann auch immer) ist sicherlich nicht auf den Foucault nach 1976 begrenzt. Darum habe ich auch Probleme damit, die Jahre nach 76 so sehr als „Wende“ oder gar Revision zu sehen. Ich sehe sie eher als bloße thematische Verschiebung.
Eine eigentliche theoretische Revision sehe ich bei Foucault nur in den späten 60er Jahren, wo er sich endgültig von seinem Rest-Strukturalismus löst.

(dein) Punkt 3) wäre eine Art „epistemologischer Freiheit“ des Diskurses gegenüber den Dingen und den Subjekten, welche in der bisherigen Philosophiegeschichte ausgeblendet geblieben sei. Wenn man diesen Punkt 3) als einen Aspekt der Freiheit anerkannt, und das Konzept der Freiheit auch dort sucht, wo der Begriff der Freiheit nicht selbst auftaucht …

Hier muss ich bekennen, nicht ganz zu verstehen, was du
meinst, was aber an meiner mangelnden Erfahrung mit dem
Epistemologie-Begriff liegt, den du durch soziologische
Schulung mit links draufhast. Den Foucault der
Diskursformationen usw. muss ich mir definitiv noch anlesen.

Naja, ich meinte damit allgemein eine „erkenntnistheoretische Ebene“, speziell aber den Foucaultschen episteme-Begriff, den du übrigens in der „Ordnung der Dinge“ (1965?) kennenlernen könntest.

Meinst du mit „epistemologischer Freiheit“ die Unabhängigkeit
von kulturell vorgegebenen Deutungsmustern bzw. Paradigmen?

Nein! Es ging mir um die Unabhängigkeit der Deutungsmuster/Diskurse von den Dingen, die sie be-deuten und von der Intentionalität der Subjekte, die mit Diskursen die Welt deuten.
(nachlesbar übrigens in dem sehr lesenswerten Büchlein über die „Ordnung des Diskurses“)

Foucault hält sich mit Wertungen in einer bewundernswerten
Weise zurück. Das meinte ich damit, als ich davon sprach, dass
er „Röntgenaufnahmen“ liefert.

Foucault nannte das auf sehr ironische Weise seinen „glücklichen Positivismus“ (übrigens ebenfalls in der „Ordnung des Diskurses“), denn ein Positivist ist er ja nun deshalb ganz und gar nicht.

Bei Veyne heißt es, dass
Foucault die Dinge „vom Sirius aus“ betrachtete und
analysierte.

Dieser harmlose Hinweis hat mir jetzt eine halbe Stunde Recherche gekostet :wink:

Hintergrund: Laplanche entwickelte in einem seiner jüngsten Aufsätze eine Trias Gender/Sex/Sexualität, und verwies beim Gender-Begriff auf Freuds „Infantile Sexualtheorien“ (1909), wo Freud -nach Laplanches Meinung- mit der Denkfigur „von einem anderen Planeten her“ das Gender-Konzept in die Psychoanalyse einführte.

Laplanche sprach vom „Sirius“, und ich glaubte bisher, Freud hätte das auch getan. Dann wäre diese Stelle bei Veyne ein wunderbarer Fund für eine Fußnote gewesen (ich sitze nämlich langfristig an einer geplanten Arbeit über Laplanche, in der diese Trias nicht fehlen wird).
Hmm, schade um die nette Fußnote, Freud spricht offensichtlich nur vom „anderen Planeten“. Wie kommt Laplanche dann auf den Sirius? Vielleicht ist das eine feststehende Redewendung im Französischen.

Allerdings ist das „Festschreiben“
unbedingt als wichtiger, auch entscheidender Akt zu werten. Es
schafft die Grundvoraussetzung für das praktische Handeln in
Freiheit.
Denn man kann doch nicht jeden Tag aufs Neue eine Französische
Revolution veranstalten, so in der Art von „Und ewig grüßt der
Robespierre“ :smile:

Doch!
Es bräuchte ohne jeden Zweifel eine ‚permanente Revolution‘.
Das Festschreiben tötet die Freiheit anstatt ihr als Voraussetzung zu dienen.

Agamben ist höchst umstritten in der deutschen Rezeption, er
scheint die Differenz zwischen Demokratie und Diktatur
theoretisch einzuebnen.

Ich würde dagegen sagen, er bringt die reale Einebnung zwischen Demokratie und Diktatur mit seinem Konzept des „Ausnahmezustands“ höchst erleuchtend auf den Begriff.

@ Nescio: Ach was, Fukuyama; zwischen Foucault und Gadamer liegt Gottlob mindestens noch der ganze unverrottbare Frege :wink:

_ ℂ Λ ℕ Ð I Ð € _

Ein böser Diarist
Oh, ℂ Λ ℕ Ð I Ð €,
welch Ungemach!

@ Nescio: Ach was, Fukuyama; zwischen Foucault und Gadamer
liegt Gottlob mindestens noch der ganze unverrottbare Frege :wink:

Ich hatte es bald selbst gemerkt und gehofft,…
Bei mir muss dieser böse Diarist wohl doch verrottet sein :wink:)
Jedenfalls stand er offenbar nicht im Regal jenes Buchladens,
oder Horst wollte ihn nicht anfassen.
Nescio