Wie weit geht Selbstverteidigung?

Hallo!

Wir hatten eine lustige Diskussion in dessen Verlauf wir uns fragten, was man wohl alles im Rahmen der Selbstverteidigung tun dürfte. Folgenden konstruierten Fall wollten wir der wissenden Leserschaft hier zur Diskussion stellen:

Einer Frau wird die Handtasche von der Schulter gerissen, der Dieb versucht damit wegzulaufen.
a) Die Frau hält den Riemen noch fest, der Dieb stürzt und verletzt sich. Bekommt sie Ärger wegen Körperverletzung?
b) Die Frau rennt hinterher, holt den Dieb ein und entreisst ihm die Tasche wieder. Wiederum verletzt sich der Dieb dabei. Wie schaut es dabei aus?
c) Sie rennt wiederum hinterher und sie schubst ihn von hinten, damit er hinfällt.
d) Die Frau bückt sich und wirft dem davon rennenden Dieb gezielt einen Stein hinterher, der ihn am Kopf trifft. Der Dieb stürzt und die Frau kann die Handtasche wieder an sich nehmen und die Polizei rufen.

Wir waren der Ansicht, dass in Deutschland im Fall a) und b) die Frau keine Probleme bekommt. Sind uns aber nicht sicher, ob es sich bei c) und d) auch noch um Selbstverteidigung handelt oder ob sie eine Anzeige wegen Körperverletzung dafür bekommt. Und - darüber möchte ich jetzt aber hier keine Diskussion starten - wir waren uns selbst bei der persönlichen moralischen Bewertung nicht einig.

Was meint Ihr zur rechtlichen Seite dazu?

Viele Grüße,
Swantje

Hallo,

§ 227
Notwehr
(1) Eine durch Notwehr gebotene Handlung ist nicht widerrechtlich.
(2) Notwehr ist diejenige Verteidigung, welche erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden.

Grundlegend werden alle Individualrechtsgüter (Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum) vom Notwehrparagraphen abgedeckt. Von daher sind die von dir beschriebenen Handlungen vollkommen okai. Es muss aber verhältnismäßig sein. Also ich kann niemanden, weil er mir 5 € klaut und abhaut von hinten abknallen :wink: !
Also die alte Dame für ihren Mut loben :wink:

Hallo,

Von daher sind die von dir beschriebenen Handlungen vollkommen
okai.

Das wage ich zu bezweifeln, und zwar genau aus diesem Grund, den du ja selbst nennst ->

Es muss aber verhältnismäßig sein.

Im Fall c und d halte ich für unangemessen.

Zudem kommt es bei der Notwehr auch darauf an, ob eigen Leib und Leben gefährdet ist. Und das wäre deswegen in c und d nicht gegeben, da ja kein Körperkontakt mehr besteht.

niemanden, weil er mir 5 € klaut und abhaut von hinten
abknallen :wink: !

Aber einen Schubs geben, damit er hinfällt?
Geht’s eigentlich noch?
Man darf überhaupt niemanden abknallen!!
Weder von vorne noch von hinten, und nicht mal in Notwehr, darf man jemanden gezielt(!) erschießen wenn man die Waffe in die Hand bekommt.

Notwehr ist kein Freibrief. Da wird schon genau geschaut, wie bedrohlich die Situation ist und auch sonstige Begleitumstände berücksichtigt.

Die Juristen mögen mich verbessern, wenn ich hier absoluten Mist verzapfe.

TM

Hallo,

die angegriffene Dame macht in allen Fällen von ihrem Notwehrrecht Gebrauch.
Diese ist im § 32 StGB geregelt. Trotz des kurzen Wortlaut des Gesetzes bestehen offensichtlich Unklarheiten, nicht nur hier im Thread, sondern auch in anderen.
Deshalb mal schnell ein „Grundkurs“ Notwehrrecht:

Notwehr ist jede Verteidigung gegen einen rechtswidrigen Angriff auf ein Rechtsgut. Das kann die körperliche Unversehrtheit oder das Leben, aber auch andere Rechtsgüter sein, wie z.B. die Ehre, das Eigentum, die Wohnung, die Freiheit usw. Die Aufzählung ist nicht abschließend, es gibt noch viele andere notwehrfähige Rechtsgüter. Die Art der Verteidigung ist nicht vorgeschrieben, eine Güterabwägung zwischen angegriffenem und verteidigtem Gut gibt es nicht, das angewandte Mittel muss nur erforderlich sein. Die gerne aufgeführte Verhältnismäßigkeit gibt es nicht. Allerdings kann bei krassem Missverhältnis der Mittel die Notwehr rechtswidrig sein (wie z.B. der Gehbehinderte, der einen jugendlichen Obstdieb mit dem Gewehr aus dem Baum schießt. Das einzige Mittel zur Verteidigung war zwar der Schuss, aber er war im Gegensatz zu ein paar Äpfeln weit überzogen). Liegen aber mehrere effektive Möglichkeiten vor, so ist das mildeste zu nehmen. Wenn z.B. bei einer Vergewaligung das einzige zur Verfügung Mittel ein großer Stein wäre der den Schädel des Vergewaltigers spaltet und er daran stirbt, der Angriff aber nicht anders abgewehrt werden konnte, wäre die Notwehr trotzdem gerechtfertigt.

Ein Angriff ist solange notwehrfähig, wie er andauert. Wenn sich der Dieb zur Flucht wendet ist der Angriff noch nicht beendet. Der Eigentümer kann sich die Sache also immer noch zurückholen. Ist der Angriff aber beendet, ist auch das Notwehrrecht zuende (also nicht auf den am Boden Liegenden noch weiter einprügeln oder weiter Steinen beschmeißen).
Anders wäre es aber, wenn dem Dieb die Flucht gelungen wäre und er Wochen später wieder zufällig angetroffen und erkannt würde. Dann könnte die Notwehr (und die Festnahme nach § 127 StPO) nicht mehr angewandt werden, evtl. wären zvilirechtliche Mittel möglich.

Ich hoffe, die Vorschrift ist halbwegs klar geworden. Allerdings habe ich sie nur umrissen, es steckt, wie so oft, der Teufel im Detail, so dass es auch hier Abweichungen geben könnte. Die Rechtsprechung dazu ist jedenfalls ziemlich umfangreich und manchmal auch erstaunlich.

Zu dem Beispiel des Handtaschenräubers. Alle aufgeführten Beispiele dürften durch Notwehr zu rechtfertigen sein.

Gruss

Iru

Hallo Irubis,

danke für den Grundkurs. Nun weiß ich, dass ich Mist erzählt habe :wink:

Dass man dem Flüchtenden ohne strafrechtliche Konsequenzen einen Stein hinterherwerfen darf überrascht mich. Der kann ja tot sein wenn es dumm läuft. Wegen einer Handtasche.

Dann sind diese „berühmten“ Geschichten die man so hört, dass ein Einbrecher erfolgreich wegen Körperverletzung Anzeige gegen den Bestohlenen erstatte, eben nur dumme Geschichten.
Da liegt ja neben Notwehr ja noch Hausfriedensbruch vor. Und aus der eigenen Wohnung prügelt man jemanden evtl. heftiger raus (um Frau und Kind zu schützen?) als einen Handtaschendieb auf offener Straße.

Schön dass es dich gibt und du dein Wissen so umfangreich und oft weitergibst.

TM

Zu Fragen der Notwehr bekommt man in 99% aller Fälle falsche Auskünfte, weil die beiden großen Irrtümer (Notwehr nur bei Gefahr für Leib und Leben sowie allgemeine Verhältnismäßigkeitsprüfung) munter weitergegeben werden. Darum besten Dank an Irubis.

Ich möchte der Vollständigkeit halber noch darauf hinweisen, dass §§ 859, 858 BGB diesen Fall noch eindeutiger regeln als § 32 StGB; dort heißt es nämlich:

„Wird eine bewegliche Sache dem Besitzer mittels verbotener Eigenmacht weggenommen, so darf er sie dem auf frischer Tat betroffenen oder verfolgten Täter mit Gewalt wieder abnehmen.“

Wenn aber das BGB sagt, dass jemand etwas darf, dann ist diese Tat allgemein gerechtfertigt, sie kann also nicht strafbar sein. Man würde in diesem Fall wohl auf § 32 StGB abstellen, aber gerade in diesem Fall könnte man es sich m.E. auch einfacher machen.

Die moralische Seite - um auf diese Frage noch zu kommen - deckt sich hier mit der rechtlichen: Wer eine Straftat begeht und jemanden angreift, kann doch nicht ernsthaft erwarten, dass das Opfer nicht das Recht hat, sich mit allen Mitteln zu wehren. Dafür haben Juristen einen schönen Spruch, nämlich:

Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen.

Das muss man sich mal vorstellen: T raubt O aus, und wenn O sich wehrt, bekommt er Ärger mit der Justiz. Das *kann* doch nicht richtig sein.

Natürlich unterliegt die Notwehr auch Einschränkungen, die auch moralisch gelten dürften: So darf, wie Irubis schon schrieb, von verschiedenen Mitteln nur das relativ mildeste gewählt werden (das aber sicher zum Erfolg führt), und in bestimmten Fällen ist die Notwehr nicht „geboten“ (wie § 32 StGB es verlangt); weiterhin ist Schusswaffengebrauch allgemein erst anzudrohen; und schließlich setzt Notwehr auch voraus, dass jemand in Verteidigungsabsicht handelt. Wenn ab dieser Einschränkungen nicht durchgreifen: Warum sollte das Opfer sich nicht in vollem Umfang verteidigen dürfen?

Nebenbei bemerkt: Es gibt noch viel mehr Rechtfertigungs- und Etschuldigungsgründe, aber keines ist so weit wie Notwehr.

Levay

Weder von vorne noch von hinten, und nicht mal in Notwehr,
darf man jemanden gezielt(!) erschießen wenn man die Waffe in
die Hand bekommt.

Doch, selbstverständlich (Irubis hat das ja schon ausgeführt). In Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein ist die Notwehr/Nothilfe, bzw. der Notstand mangels anderer Regelungen im Polizeirecht deswegen z.B. auch Rechtsgrundlage für einen finalen Rettungsschuss, um da direkt mal das Extrembeispiel einer geplanten und vorbereiteten gezielten Tötung aus Notwehr zu bringen.
Ebenso muss auch die gezielte Tötung eines Angreifers, der einen Polizisten angreift durch einen Polizisten in diesen Ländern über das persönliche Notwehrrecht gerechtfertigt werden.

Gruß Andreas

Obwohl ich gerade nicht restlos sicher bin, wage ich das zu bezweifeln:

mangels anderer
Regelungen im Polizeirecht deswegen z.B. auch Rechtsgrundlage
für einen finalen Rettungsschuss

Natürlich kann § 32 StGB hier für den Polizisten, der den Schuss ausführt, persönlich rechtfertigend wirken. Eine „Rechtsgrundlage“ im Sinne des Verwaltungsrechts ist § 32 StGB gleichwohl nicht, so dass man, wenn man keine andere Rechtsgrundlage findet, den Schuss als verwaltungsrechtlich rechtswidrig, wenn auch strafrechtlich belanglos ansehen kann. In NRW stützt man sich insofern wohl auf § 64 Nr. 1 PolG NRW, der den finalen Todesschuss aber nicht explizit regelt.

Levay

Hallo,

Verwaltungs(vollstreckungs)recht und Notwehr… ein Punkt, der auch bei den Polizeibeamten immer wieder für Unklarheit sorgt.
Grundsätzlich macht ein Polizeibeamter in Ausübung seines Dienstes kein Gebrauch des Notwehrrechtes, sondern alle Maßnahmen fußen auf dem Verwaltungsrecht. Das Verwaltungsrecht lässt viele Handlungen zu, die sich wie Notwehrsituationen darstellen. Es wäre ja durchaus möglich, Verwaltungsmaßnahmen ohne vorherige Verwaltungsverfügungen zwangsweise durchzusetzen (was u.U. sogar den Schusswaffengebrauch ohne Ankündigung zulassen würde). Das Notwehrrecht könnte man als Netz sehen, das unter die polizeilichen Maßnahmen gespannt ist und - sollte eine Maßnahme ausnahmsweise nicht verwaltungsrechtlich erlaubt sein - den Beamten rechtlich auffängt.

Obwohl im Endeffekt die Außenwirkung, egal ob Notwehr oder Verwaltungsrecht, die gleiche ist, liegen zwischen der rechtlichen Einordnung und vor allem dem Rechtsschutz gegen dieses Handeln Welten.

Interessant dazu: Es gab schon gerichtliche Auseinandersetzungen, wo es darum ging, dass Polizeibeamte, da sie ja polizeirechtlich handeln, nicht das Notwehrrecht ausüben dürfen - ihnen quasi das Notwehrrecht abgesprochen wurde. Das wurde aber vom Gericht ganz klar abgelehnt, denn auch der Beamte hat die Notwehrrechte des „Normalbürgers“.

Das aber nur der Vollständigkeit halber.

Gruss aus den verschneiten sächsichen Bergen, gleich geh ich Schilaufen :smile:

Iru

Danke!
Hallo nochmal!

Wow, das ist wirklich spannend. Danke besonders an Iru und Levay für die ausführlichen und fundierten Antworten!

Gratulieren kann ich (leider) keiner wehrhaften Oma, weil es WIRKLICH ein fiktiver Fall war. :smile: Aber es ist doch immer wieder interessant Dinge im Leben einfach mal durchzudenken und mit anderen zu diskutieren.

Danke allen und wünsche Euch noch einen schönen Sonntag,
Swantje

In NRW stützt man sich insofern wohl auf § 64 Nr. 1 PolG NRW,
der den finalen Todesschuss aber nicht explizit regelt.

Richtig, in NRW gibt es eben eine solche Norm, die man zumindest annähernd heranziehen könnte. In den drei von mir benannten Bundesländern ist das leider nach wie vor nicht so, so dass hier der handelnde Polizist auf die persönlichen Notwehrrechte zurückgreifen muss.

Gruß Andreas

O. k., du weißt da offenbar mehr als Irubis und ich. Hast du irgendwelche Belege dafür, dass § 32 StGB dort als verwaltungsrechtliche Rechtsgrundlage angesehen wird? Es geht mir nur um diese Frage, nicht um die strafrechtliche Beurteilung.

Levay

Hast du irgendwelche Belege dafür, dass § 32 StGB dort als verwaltungsrechtliche Rechtsgrundlage angesehen wird? Es geht mir nur um diese Frage, nicht um die strafrechtliche Beurteilung.

Gute Frage, der ich mich anschließe.

Iru

O. k., du weißt da offenbar mehr als Irubis und ich.

Irubis hat mir dahingehend ja nicht widersprochen.

Hast du irgendwelche Belege dafür, dass § 32 StGB dort als
verwaltungsrechtliche Rechtsgrundlage angesehen wird? Es geht
mir nur um diese Frage, nicht um die strafrechtliche
Beurteilung.

Eben das ist ja der Kern des Problems, soweit ich weiß und ausgebildet bin handelt der Polizist in diesem Fall in den Ländern, die das nicht gesetzlich geregelt haben eindeutig entgegen dem bestehenden Verwaltungsrecht, also quasi als Privatperson auf Grund der Notwehrrechte. Das das ganze höchst unbefriedigend ist, dürfte klar sein. Deswegen wurden ja in den anderen Ländern entsprechende Paragraphen geschaffen, bzw. bestehende Paragraphen in der Interpretation entsprechend erweitert.

Gruß Andreas

Irubis hat mir dahingehend ja nicht widersprochen.

Ich habe dir widersprochen, und er hat mir zugestimmt. Aber selbst wenn nicht…

Eben das ist ja der Kern des Problems, soweit ich weiß und
ausgebildet bin handelt der Polizist in diesem Fall in den
Ländern, die das nicht gesetzlich geregelt haben eindeutig
entgegen dem bestehenden Verwaltungsrecht, also quasi als
Privatperson auf Grund der Notwehrrechte.

Eben. Und weiter oben hast du gesagt, § 32 StGB sei eine Rechtsgrundlage. Ich habe daraufhin klarstellen wollen, dass eine Rechtsgrundlage nicht im verwaltungsrechtlichen Sinn ist, und wenn du das auch so siehst, besteht ja gar kein Dissens. (Zu dem Hinweis sah ich mich auch nur genötigt, weil der Begriff „Rechtsgrundlage“ sehr missverständlich ist, wird er doch im Strafrecht nicht gebraucht, so dass man meinen konnte, du würdest das Verwaltungsrecht meinen).

Levay

Ich habe dir widersprochen, und er hat mir zugestimmt.

Schwierig, seine Antwort kam ja früher als deine. :wink:

Und ja, es besteht ganz offenbar kein Dissens, mir ging es nach der Aussage, dass das Notwehrrecht gezielte Tötungen ausschließe ja gerade darum aufzuzeigen, dass selbst das Verwaltungsrecht teilweise so enge Grenzen setzt, dass sich Polizisten im Dienst, als „Privatleute“ eben auf die Notwehrrechte berufen müssen, um eben eine gezielte Tötung durchzuführen. Und das eben als extremstes Beispiel einer solchen Tötung aus Notwehr, weil diese z.B. bei einer Geiselnahmesituation eben quasi generalstabsmäßig geplant ist.

Gruß Andreas

Hallo!

Das das ganze höchst unbefriedigend ist, dürfte klar sein.

Soll der Gesetzgeber auch noch dafür sorgen, dass es befriedigend ist, Menschen zu töten?

Grüße

Andreas

Soll der Gesetzgeber auch noch dafür sorgen, dass es befriedigend ist, Menschen zu töten?

Hallo,

ich gehe mal davon aus, dass du die Thematik nicht verstanden hast, denn sonst würdest du dich nicht so äußern.
Es dreht sich nicht darum, dass es mehr oder weniger befriedigend oder unbefriedigend ist, Menschen zu töten, sondern darum, dass eine fehlende Rechtssicherheit beklagt wird.

Gruss

Iru

Hallo Irubis!

In Ordnung.

Grüße

Andreas