man müßte fundierte Belege dafür bringen, daß es so ist, wie
Du behauptest. Ich frage mich, ob Du oder andere
„gesellschaftskritische“ Zeitgenossen das können. Oder ob
diese „Gesellschaftskritik“ nur ein Aspekt der so häufig zu
vernehmenden Klage über die „böse, böse Welt“ mit
Globalisierung usw. ist, die keineswegs immer berechtigt ist.
Ich behaupte in dem Zusammenhang wenig. Ich sagte ich unterschreibe Lüpkes Aussagen, weil ich es völlig in Ordnung finde, sich bewusst zu machen, dass Diagnostik auch was mit Verantwortung und i.w.S. gesellschaftsbildung oder -prägung zu tun hat, da verschiedenes Verhalten pathologisiert wird. Ich bin demgegenüber aber bspw. nicht der Meinung, dass die ADHS nicht existiert. Es ging um die Frage, ob Kritiker immer als scientologynah einzustufen sind, und dem ist de facto nicht so. Auch haben die Kritiker mitunter m.E. gute Ansätze, wie zb. eben dieser von Lüpke, der ,ebenfalls m.E., die Frage stellt, ob die zunehmende Diagnostik berechtigt ist oder eben auf Gesellschaftsprozesse zurückgeht. Zu welchem Ergebnis man bei dieser Frage kommt ist für mich persönlich ziemlich wurscht, denn allein das sich beschäftigen mit der Frage „ob“ führt zur Überprüfung der eigenen Arbeit.
Versteh mich nicht falsch: Die zunehmende Zahl an
ADHD-Diagnosen und der explosionsartige Anstieg an
Ritalinverschreibungen sind Phänomene, die Fragen aufwerfen.
Aber ob diese Art von „Gesellschaftskritik“ die Fragen
wirklich beantwortet und einen konstruktiven Umgang mit den
Herausforderungen unserer Zeit darstellt …
Ich bin nicht in der Situation diese Zusammenhänge nachweisen zu wollen oder zu müssen, sehe aber dass die geforderten Nachweise schwer zu erbringen sind. Im Grunde geht es doch darum, dass der Kritiker meint, Verhalten, dass vor einer Zeit X eine völlig normale Verhaltensweise darstellte, würde heute pathologisiert. Dass also eine neue Anforderung, durch verschiedene Begebenheiten begründet, da ist, deren Wirken und Ursachen beleuchtet werden wollen, ob dies in der Tat eine positive oder negative Veränderung ist. Eine angemessene methodische Umsetzung zur Prüfung der Fragestellung ist wahrscheinlich unmöglich, weil keine objektiven, verwertbaren Daten vorliegen. Deswegen ist aber die Idee nicht grundsätzlich doof.
Fakt ist sicher, der Anstieg ist da. Und der Frage warum, kann man sich von verschiedenen Seiten nähern. Eine vernünftige, nachvollziehbare Antwort auf die Frage steht noch aus und solang können meinetwegen alle gerne laut denken und wahrscheinlich machts wie immer die Mischung.
Ich bin mir nicht sicher, ob das allen klar ist. Aber das geht
mir bei vielen Dingen so. Fakt ist, Theorie und Praxis liegen
nicht immer sonderlich dicht beieinander. Und es gilt m.E. für
die gesamte Psychologie und einige andere FBs, dass die
Schmutzbrust den Rest hineinreitet.
Ich war auf dem Kongreß der Deutschen Gesellschaft für
Psychologie dieses Jahr. Ich habe solche Eindrücke, wie Du sie
hast, nicht gewonnen.
Welche Eindrücke genau?
Ich übernehme derzeit Patienten fortführend, die bis zu 2 Jahre bezüglich X und Y behandelt wurden, ein Diagnosetool aber auf 30 Meter nie gesehen haben. Das Argument: alle die hier eintrudeln haben das und dieses, jenes Verhalten gehört nachweislich zum Störungsbild X/ Y- steht doch daundda.
Auf wissenschaftlicher Ebene (Vorträge, Publikationen…) würde man dieses Vorgehen methodisch harsch kritisieren. Praktisch passiert das wenig, weil die Feedback-Runde viel zu klein ist oder vorhergehende Konflikte an bspw. der Objektivität des Kritikers zweifeln lassen etc.
In der Literatur oder auf Kongressen (die manchmal in erster Linie eine Selbstbeweihräucherung sind) wirst Du das selten finden. Allenfalls die Populärwissenschaft lässt sich (unbewusst) dazu herab, ihr fachlich inkorrektes Vorgehen offen zu legen. Der Fachmann lacht darüber, stellt das Buch in den Schrank und das wars. Der Laie liests und nimmts. *Herrn Harbort winks*
Es passiert. Es passiert nicht oft, und dennoch zu viel. Schlechte Leute gibt es in allen Sparten, aber dann wechselt man halt den Telefonanbieter und verschreit nicht die gesamte Telekommunikation
Das Resultat ist aber, dass die Zielgruppe ein Bild gewinnt, bei dem die Gesamtheit schlechter abschneidet als sie ist. Wenn man durch die Seiten der Anti-Psychiatrie-Bewegung stöbert, findet man 5 die irgendwie sowas wie ideologische Gründe und Botschaften haben und 25 die aufgrund schlechter Erfahrungen sich der Gruppe angeschlossen haben. Und so wie jeder einen kennt oder einen kennt der wiederum einen kennt, der auf dem medizinischen Sektor i.w.S. Fusch begegnete hält sich auch dies wacker in der Psychologie. Obwohl auf den einen X positive Berichte kommen. Der Unterschied ist die gesellschaftliche Anerkennung der Disziplin und die Auswirkungen des Nicht-Aufsuchens, die in der Medizin deutlich häufiger zu schnelleren, gravierender spürbaren Folgen führen.
Ich kenne die Art von „Gesellschaftskritik“ aus einem der
anderen Fachbereiche relativ gut, der gerade in dieser Zeit im
Gespräch ist: die Kritik an PISA. Es ist ordentlich
„Gesellschaftskritik“ dabei, in der Ex-DDR-Staatszeitung
„Neues Deutschland“ findet sie Platz, das schwappt dann
manchmal über auf andere Zeitungen. Solide und fundiert ist
die Kritik nicht, sie beruht z.T. auf groben Fehlern.
Trotzdem, also trotz der Fehler der Kritiker, wird die Kritik
von ihnen weiterverbreitet und es werden dabei pauschale
Aussagen getätigt, denen der Boden z.T. bereits entzogen ist.
Ich weiß das. Der unwissende Zeitungsleser oder
„nano“-Zuschauer - was macht der?
Dasselbe wie der Bild-Zeitungsleser: Sofa, Bierchen, Pöbeln, Nichts.
Mir ist dieses Blatt Gott sei Dank unbekannt.
Die Kritik, ist sicherlich überzogen, fälschlich generalisiert, aber- wenn es mir ein Anliegen wäre, diese Fälle zu „beseitigen“- ich weiß nicht, ob ich es anders ausdrücken würde. Schriebe man „in einigen Fällen bla und blubb“ wären es immer die anderen, selten die eigenen.
Allein die Auseinandersetzung mit dieser Kritik führt m.E. zur Überprüfung der Handlung und hat damit schon ihr Ziel erreicht. Methodisch nachweisen- wie machen?
Vielleicht ist diese „Gesellschaftskritik“ einfach ein
Ausdruck der Verunsicherung in einer Zeit, in der wir vor so
großen ernsthaften Herausforderungen stehen.
In der Tat geht es nicht in erster Linie um ADHS oder Problem XYZ, es ist m.E. viel mehr Ausdruck der Unzufriedenheit mit der aktuellen Situation (sonst käme man wahrscheinlich gar nicht auf die Idee das Geschehen zu überprüfen). Ich empfinde es als eine „Back-to-the-roots-“ fast Nostalgie-Stimmung. Die Herausforderung nicht annehmen wollen. Eine Art Umdenken, dass dem Fortschritt bisweilen entgegen steht. Wenn wer sagt, ADHS ist keine tatsächliche Störung und seine Ursachen in den sozialen Bedingungen sieht, dann ist, unabhängig von der Frage ob das so ist, klar, dass bejubelte neue Errungenschaften negativ gesehen werden. Und das finde ich schon einen wichtigen Indikator für das Miteinander. Dann kann ich sagen, die Kritik ist fachlich nicht zu halten. Die Idee oder der Wunsch dahinter, schert sich allerdings kaum um Gütekriterien und Signifikanzen.
Entsprechend sehe ich die Kritiker des konkreten Anliegens in erster Instanz derzeit als sowas wie den moralischen Fingerzeig, den ich persönlich nicht ganz unberechtigt sehe, und in zweiter Instanz als das Sprachrohr viel abstrakterer Phänomene, gegen die sich zunehmend auf ganz vielen verschiedenen Ebenen aufgelehnt wird (PISA, Unterschichtendebatte, ADHS usw. laufen fast alle auf wenigstens verwandte Faktoren zurück). Denn wir halten fest, sie sind mehr als deutlich in der Minderheit und kritisieren trotzdem Verfahren, die auf anderen Ebenen und von der Masse, als wissenschaftlich fundiert und legitimiert gelten. So sind sie m.E. entweder „bekloppt“ oder haben eine ganz andere Intention als die augenscheinliche. Dafür spricht m.E. auch, dass sich ein Verein wie die Scientologen mit dem Thema beschäftigt. Und an dieser Position werden sie entweder als „bekloppt“ abgestempelt oder aber sie greifen sich den unzufriedenen Bürger ab. Da man solcher Art Organisationen i.d.R. da wo es mind. mittelfristig fruchtbar ist findet, wäre es doch irgendwie schon grob fahrlässig sich dem ganzen nicht oder mit geringer Aufmerksamkeit zu nähern.
Gruß
Frosch