Femme fatale
Hallo Judith,
das:
… in meinem direkten Umfeld gibt es das nicht oder wird zumindest nicht thematisiert (und ich erkenne es auch nicht.)
ist nicht verwunderlich. Wenn wir mal nicht von Persönlichkeits_störungen_ sprechen, sondern etwas verallgemeinernd über Persönlichkeits_konturen_ (die ersteren die psychotherapeutisch bzw. klinisch relevanten malignen Formen der letzteren), dann kann man sagen: Sie sind überall unter uns zu finden. Denn die meisten jeweils zugehörigen Eigenschaftscluster treten erst in ganz spezifischen Situationen in Erscheinung, in denen sie durch irgendetwas getriggert werden. Und so ist es auch mit Borderline.
Keinem Borderliner kann man ohne solche Triggersituationen seine Persönlichkeitsmerkmale anmerken, denn es sind dynamische Eigenschaften, keine statischen: Sie treten erst in interaktiven Szenarien auf, die Trigger kommen von außen aus der unmittelbaren Umgebung, nicht von innen aus eigenen Gedankengängen oder Phantasiebildungen. Mit anderen Worten: Man bemerkt diese Persönlichkeit nur in ihrem dialogischen Verhalten.
Wenn also dein persönlicher Lebensraum Menschen mit mehr oder weniger problemlosen Partnerschaften und mehr oder weniger konfliktfreien Berufsausübungen enthält, dann ist deine Nicht-Wahrnehmung extremer Persönlichkeistkonturen nicht erstaunlich.
Für jemand, der sich aber speziell mit zwischenmenschlichen Konfliktszenarien befaßt, sieht das logischerweise anders aus (womit natürlich auf keinen Fall gemeint ist, daß Konflikte in Beruf und Partnerschaft immer etwas mit Persönlichkeitsstörungen zu tun haben).
Es sind immer Männer, die an einer Borderline-Frau verzweifeln.
Das ist nach offiziellen Einschätzungen tatsächlich der Fall. Christa Rohde-Dachser und Marsha Linehan und andere schätzen die Geschlechterzuordnung auf 70% zu 30%. Allerdings kommen solche Schätzungen aus klinischen Erhebungen, nicht einmal aus individuellen psychotherapeutischen Praxen. Jedenfalls sind damit nur die therapeutisch relevanten malignen Formen erfaßt. Und außerdem nur solche, die sich eindeutig in den standardisierten Diagnostiken des DSM IV oder der ICD-10 einordnen lassen. Zusätzlich nur solche, die bereits in den jeweiligen Lebensumgebungen zu dramatischen Eskalationen geführt haben, was keineswegs immer der Fall ist.
Über die Geschlechterverteilung wird auch in der Fachwelt lediglich spekuliert. Sofern die Ursachenvermutung von BPS vorwiegend auf frühkindliche Traumata fokussiert, dürfte es mit der Geschlechterverteilung von Gewalt und Mißbrauch korreliert sein (was, glaube ich, tatsächlich der Fall ist). Aber ich habe selbst eine große Zahl von weiblichen Borderlinerinnen in der Praxis kennengelernt, die keinerlei Gewalt oder Mißbrauch in ihrer Biographie hatten.
Es kommt noch ein weiterer Punkt dazu: Männer outen sich viel seltener mit nicht zu bewältigenden Partnerschaftskonflikten und suchen entsprechend seltener externe Hilfe. Und BPS-Männer haben halt, ebenso wie Narzißtische PS, die Fähigkeit, der Partnerin die Therapiebedürftigkeit - und damit die Schuld am Konflikt - unterzujubeln. BPS-Frauen haben eher die Einsicht, daß der Partner ihretwegen leidet und nicht seinerseits die Konflikt-Ursache ist.
Und worin besteht genau die enorme Anziehungskraft, die Borderlinerinnen auf gewisse Männer auszuüben scheinen?
Auch das ist eine Frage, die in der Fachwelt ungelöst ist, und mit der man sich, soweit ich Blicke, auch nicht speziell befaßt. Aber das Phänomen selbst ist natürlich sehr interessant. Die erotische Attraktivität für Männer ist ähnlich wie die Attraktivität von narzißtischen Männern auf Frauen. Und unter den stabilen und langjährigen Beziehungen von Borderlinerinnen finden sich fast immer stark narzißtische Männer vom dominanten Typ. Das ist deshalb interessant, weil normalerweise eine Partnerschaft zwischen zwei dominanten Persönlichkeitstypen nicht stabil ist.
Bei nicht-stabilen Beziehungen von Borderlinerinnen sind die Partner (oft sind es tatsächlich mehrere gleichzeitig) in der Regel vom Typ, wie auch der hier beschriebene. Männer, die zur devoten Vergöttlichung dieser Partnerin neigen, bei denen die Bindung (oder besser: Anhänglichkeit im wörtlichen Sinne) folglich existentielle Valenz hat. Das ermöglicht der Borderlinerin die Rolle der Femme fatale, die ihr heikles Wechselspiel von Über-Idealisierung (zu der auch sie neigt) und vernichtender Verachtung hier voll ausleben kann, ohne Gefahr, den Partner zu verlieren.
Mein früherer Artikel über die → /t/bin-so-traurig-brauche-rat/978617/11
Worin diese weibliche Attraktivität eigentlich besteht, darüber ließe sich viel sagen. Das würde aber diesen Thread überladen. Soviel jedenfalls sei angedeutet: Es ist eine spezielle Art der Erotik und die Weise, in der sie sie ausagiert.
Gruß
Metapher